Koexistenz setzt Existenz voraus
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Koexistenz setzt Existenz voraus

Der französische Philosoph Rémi Brague im Gespräch über Politik, Werte und das Zusammenleben in Familie und Staat.

Das Gespräch ist im Oktober 2020 in der Ausgabe Nr. 13 erschienen. Melchior erscheint zweimal im Jahr. Bestell dir hier die aktuelle Melchior Ausgabe zum Kennenlernen.

Ein herbstlicher Morgen in Fribourg, dem malerischen Städtchen an der Saane. In einem älteren Institutsgebäude erscheint Rémi Brague mit seiner Frau Françoise gut gelaunt zum vereinbarten Interviewtermin. Das rüstige Ehepaar ist eben erst für einen Vortrag aus Frankreich hergefahren, bald schon werden sie nach Paris weiterreisen. Der Leiter des Instituts steht in der Türe, begrüßt seine Bekannten herzlich und fragt nach, wie lange das Interview ungefähr dauern wird. „So lange, dass sich anschließend noch ein Stadtbummel ausgeht. Ich habe gehört, dass es hier ein ausgezeichnetes Antiquariat geben soll. Dort warten bestimmt einige Bücher auf unsere Konsultation“, lacht Brague schelmisch, der, ganz Philosoph, eine große Liebe zu Büchern hegt und selbst auf dem Handy mehr Wörterbücher als Apps gespeichert hat. Als wir uns setzen, sind wir bereits mitten im Dialog.

Herr Brague, was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie als Philosoph den Begriff Gemeinschaft hören?

Rémi Brague – Zunächst denke ich an das griechische Wort Pólis. Es steht für die Gemeinde, die älter ist als der Staat. Sie lässt sich mit unserer bürgerlichen Gesellschaft, mit Verbänden und Vereinen vergleichen. Solche Bindungen zwischen den Menschen entstehen ganz natürlich; in der Familie, in der Zusammenarbeit, im Beruf und dergleichen. Aus ihnen entstand die verbriefte Gemeinschaft, man bezeichnet sie als Gesellschaft. Der deutsche Soziologe Ferdinand Tönnies erkannte jedoch einen Unterscheid zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. Eine Gemeinschaft sei dem ersten Anschein nach menschlicher, aber nicht notwendig humaner. So können etwa die Verhältnisse in der Gemeinschaft der Familie ab und zu richtig tragisch werden. In der griechischen Tragödie sind immer Familienverhältnisse Hauptgegenstand der Ereignisse, die Konflikte gehen bis hin zu Inzest und Mord. Die Familie ist eine doppeldeutige Wirklichkeit. Es bedarf einer Anstrengung, um ein friedliches Familienleben zu erwirken.

Eine Gemeinschaft ist also auf der einen Seite das Elementarere und Humanere im Vergleich zur Gesellschaft. Auf der anderen Seite aber vielleicht das Schwierigere. Wir sind nämlich nicht so nette Leute, wie wir uns oft einbilden. Das gilt allgemein, nur nicht bei mir, selbstverständlich. (Lacht)

Vom griechischen Pólis leiten wir auch den Begriff Politik her. Wenn Menschen zusammenkommen, gibt es Grund für Ordnung und Regeln, sodass es schnell politisch wird.

Ich verstehe nicht, warum das Adjektiv „politisch“ des Öfteren eine negative Färbung annimmt. Ich habe, was mich betrifft, einen würdigeren Begriff des Politischen vor meinem geistigen Auge. Eine politische Gemeinschaft besteht aus Leuten, die den Entschluss gefällt haben, sich nach gewissen Regeln zu richten. Diese Regeln sollten so klar und ausdrücklich wie möglich sein. Dazu bedarf es ein helles Bewusstsein davon, was man zu tun und lassen hat. Auf diesem Gebiet ist das Politische vielleicht das Beste, das man sich angesichts der menschlichen Niedertracht vorstellen kann. Die Politik begrenzt die Konfliktmöglichkeiten, die unter uns so gut wie unvermeidlich entstehen. So ist für mich die Pólis ein edles Gut. Es ist die Ehre der Menschengattung, dass es ihr gelungen ist Poleis zu bilden.

Sie wünschen sich also mehr Politik?

Ja, was wir jetzt brauchen, ist Politik. Den echten politischen Mut, Entscheidungen zu fällen, die dem Gemeinwohl dienen, auch wenn sie nicht jedem gefallen werden. Die Suche nach einem allgemeinen, reibungslosen Verständnis gefährdet die Politik am meisten. Ganz im Gegenteil, es gibt in der Politik ein legitimes Element des Zwangs. Um den zu begründen, dafür braucht man Mut. Das ist etwas, was uns vielleicht heute besonders fehlt.

“Die Suche nach einem allgemeinen, reibungslosen Verständnis gefährdet die Politik am meisten.”

Was denken Sie, weshalb ist der Ausdruck „politisch“ so negativ behaftet?

Es ist nicht leicht, der Größe des politischen Unternehmens gewachsen zu bleiben. Es gibt zu viele Menschen, die unter dem Deckmantel des Gemeinwohls nur ihr eigenes Interesse suchen. Dieser Sachverhalt ist so alt wie die Entstehung des politischen Lebens selbst. Je grösser, je edler, je erhabener ein Ding ist, desto schlimmer die Versuchung. Corruptio optimi pessima. Diesen lateinischen Spruch kennt man: „Das Verderben der Besten ist das schlimmste Verderben.“ Deswegen ist es im ganzen Verlauf der Geschichte schwierig, echte Politiker im edelsten Sinne des Wortes ausfindig zu machen. Meiner Meinung nach lassen viele ein notwendiges Gefühl für die Würde des Amtes vermissen.

Heute bemüht man sich im politischen Diskurs um sogenannte „Werte“, von denen ausgehend man als „Wertegemeinschaft“ das Zusammenleben ermöglichen will. Sie haben einen kritischen Blick auf Werte. Warum?

Ich bin in der Tat ein unerbittlicher Feind der Werte. Wenn ich von ihnen höre, dann ziehe ich meine Pistole. (Lacht) Als Philosoph und Ideenhistoriker weiß ich, dass der Wertbegriff eine beladene Vorgeschichte hat. Nicht nur historisch gesprochen, sondern auch begrifflich. Eine Werteidee bringt die Vorstellung mit sich, dass man die Werte setzt: „Ich lege Wert darauf, dass Sie das oder jenes tun. Ich betrachte dies oder jenes als wertvoll.“ Ich bin derjenige, der über den Wert der Dinge entscheidet. – Das alles bringt paradoxerweise einen eklatanten Widerspruch mit sich. Niemand hat das so gut zum Ausdruck gebracht, wie jener Philosoph, der dem Wertbegriff seine Rechte, seine philosophische Würde verliehen hat: Nietzsche. In seinem Werk Zarathustra findet man folgende Worte: „Schätzen selber ist aller geschätzten Dinge Schatz und Kleinod.“ Der Satz enthält die innere, selbstzerstörerische Dialektik des Wertbegriffs. Denn: Wertvoller als der Wert ist die Tatsache, durch die ich dem oder jenem einen Wert gebe. Also: Wenn ich darüber entscheide, was einen Wert hat, bedeutet das, dass ich selber als das setzende Subjekt wertvoller bin als jeder Wert. Der Wert wird gerade dadurch entwertet, dass er bewertet wird. Damit ist der Wertbegriff der Triumph der Subjektivität: Ich bin am Wertvollsten, weil es mir gelingt, Werte zu setzen. Es ist bemerkenswert, wie sehr die Rede von Werten unser Denken infiziert hat.

Hinzu kommt, dass man schwerlich sein Leben für Werte einsetzen, riskieren und verlieren kann. Wer kämpft zugunsten eines Wertes? C.S. Lewis hat einmal gesagt: Wenn man unter Bombenhagel steht, ist es besser an die eigene Truppe zu denken als an irgendeinen abstrakten Wert. Der Gedanke an die Freunde in meinem Regiment, die ich nicht im Stich lassen will, ist wirksamer als jener an Freiheit, Gleichheit oder Brüderlichkeit.

Was schlagen Sie alternativ zum Wertbegriff vor?

Machen wir ein ganz einfaches Gedankenexperiment: Jedes Mal, wenn wir versucht sind, von Werten zu reden, sprechen wir von Gütern. Ich weiß, dass das keine Revolution im Wortschatz verursacht. (Lacht) Trotzdem geschieht dadurch eine Gedankenumstellung, man bekommt eine andere Optik. Denn, was gut ist, ist an und für sich gut. Objektiv, nicht subjektiv. Es hängt nicht davon ab, ob ich es als das Gute betrachte, ob ich „Wert“ darauflege. Wenn man von Gütern spricht, dann verlässt man im Handumdrehen die herabsetzende Wertskala, nach der das Geistige, das Abstrakte höher stünde, als das andere.

Wie kann man dementsprechend als Gemeinschaft „gut“ zusammenleben?

Die Frage nach der Koexistenz setzt die Frage nach der Existenz voraus. Bevor wir versuchen miteinander reibungslos zu leben, müssen wir überhaupt leben. Da muss man zuerst ansetzen. Um zu handeln gebraucht man das machbare Gute: Was soll ich tun? Aber die Frage, die mehr und mehr gestellt wird, ist: Sind wir nicht auf diesem Planeten die Spaßverderber, das grausamste Tier? Machen wir nicht alles kaputt? Um diese Frage zu beantworten braucht es einen stärkeren Begriff des Guten: Ist es ein Gutes, dass wir das Weiterexistieren der Menschheit befördern oder hemmen? Es gibt Leute, die antworten: Für den Planeten wäre es besser, der Menschheit das Handwerk zu legen.

Nur, wie wollen Sie als Philosoph die Frage der menschlichen Existenz beantworten? Müssen Sie da nicht auf die Religion zurückgreifen?

In der Tat. Ohne die Vorstellung eines wohlwollenden Schöpfers ist die Frage nach der Legitimität unseres Daseins schwer zu beantworten. Man kann ihr nur ausweichen, indem man sagt: Wir Menschen sind jetzt nun mal, wie auch immer, auf diesem Planeten. Zudem sind wir mächtiger als die übrigen Lebewesen und werden uns noch weiter vervollkommnen. Ich denke an das sogenannte transhumanistische Projekt einer Erweiterung der menschlichen Natur. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Inwiefern hat man in diesem System ein Anrecht, das Leben anderer Leute so zu regulieren wie wir es wünschen?

Indem man sich auf die Werte beruft…

Ganz genau. Da wären wir wieder bei diesen verflixten Werten, von denen wir ja jetzt wissen, dass sie nicht halten können, was sie vermeintlich versprechen.

Sie glauben also, dass uns in der Frage nach dem guten Zusammenleben die Vorstellung eines wohlwollenden Schöpfers hilfreich ist?

Genau. Eine Gemeinschaft, in der die Leute davon überzeugt sind, dass sie alle irgendwie von einem wohlwollenden Schöpfer herrühren, diese Leute können – theoretisch – nicht umhinkommen, einander zu respektieren. Schließlich sind dann die anderen Geschöpfe desselben wohlwollenden Gottes. Dieser Gedanke bringt es mit sich, dass man als höchstes Prinzip das Gebot „Du sollst nicht töten“ setzen muss. Denn jeder Mensch verdient so eine unendliche Achtung.

Aber das ist banal. Es gehört zu den großen Plattitüden, C.S. Lewis sprach davon. Die Zehn Gebote kann man schließlich überall finden: In China, in Altägypten. Sie gehören zum minimalen Überlebens-Kit des Menschentums. Das Gute am Christentum ist, dass es diesem uralten und banalen Schatz der ethischen Prinzipien nichts hinzufügt. Das Christentum sagt über die Art und Weise, wie man sich anziehen, waschen, ernähren und den Bart abrasieren soll, nichts. Es überlässt all das dem menschlichen Verstand und der menschlichen Freiheit. Es ergänzt nur zweierlei, zuerst vertiefend: Es genügt nicht, den Nächsten nicht zu töten, man soll sich auch nicht ärgern und schlecht über ihn aussagen. Es genügt nicht, nicht mit der Frau des Nachbarn zu schlafen, man soll sie auch nicht mit lüsternen Augen beglotzen. Das Zweite ist eine Verallgemeinerung des Anwendungsfeldes der Gebote. Die Unterschiede zwischen Mann und Frau, Herr und Sklave, Jude und Heide etc. soll man abschalten. Zwar bestehen die Unterschiede weiter, man negiert sie nicht, aber sie verlieren ihre Relevanz. Das Christentum setzt dem Menschen also neue Augen auf, soll ihm eine neue Optik ermöglichen. Ein Christ kann Menschliches dort sehen, wo die anderen es nicht sehen. Die anderen sehen nicht einen Menschen, sondern eine Arbeitskraft die ausgebeutet werden kann, einen Sklaven. Die anderen sehen in der Frau nicht ein menschliches Wesen, sondern eine Henne, die so viele Eier wie möglich legen soll. Und heute sieht der Christ menschliches Leben, wo andere nur ein Bündel von Zellen sehen.

Denken Sie, dass in einer säkularisierten Welt diese Optik zu wenig Anwendung findet?

Sie haben soeben ein fantastisch interessantes Adjektiv benutzt: säkular. Die Etymologie ist das lateinische Saeculum. Es bedeutete ursprünglich: Die Lebensdauer. Man legte fest, dass die höchste Lebensdauer eines gewöhnlichen Menschen 100 Jahre beträgt. Also verwendet man Saeculum auch für „Jahrhundert“. Es gibt Leute, die jetzt für eine ausschließlich säkulare Weltsicht plädieren. Ich behaupte mit einem gewissen Lächeln: Säkularismus ist jene Weltanschauung, die notwendigerweise mit sich bringen muss, dass die Menschheit nur ein Jahrhundert überleben wird. Sie hat, wie es ihr Name andeutet, eine begrenzte Lebensdauer. Und es stimmt: Wer säkular gesinnt ist, findet keinen vernünftigen Grund, das Weiterbestehen der Menschheit zu fördern.

Wer das Leben der anderen nicht fördert, kann aber immerhin noch sein eigenes fördern. Wenn alle nur an sich denken, ist ja auch an jeden gedacht. Kann man nicht als harmonisierte Egoisten gut zusammenleben? 

Das System der Harmonisierung der Egoismen zeigt sich im Liberalismus in seiner klassischsten Form. Das genügt in der Tat, damit die Leute einander nicht die Kehle aufschlitzen und allenfalls miteinander in Frieden leben. Immerhin. Aber es gibt so keinen Grund, andere Menschen ins Leben zu rufen. Andere Leute ins Leben rufen ist eine höchst undemokratische Handlung. Man kann diese Leute nicht um ihre Meinung fragen: Wollen Sie geboren werden, ja oder nein? Kreuzen Sie bitte hier an…

Wer das Leben der anderen nicht fördert, kann aber immerhin noch sein eigenes fördern. Wenn alle nur an sich denken, ist ja auch an jeden gedacht. Kann man nicht als harmonisierte Egoisten gut zusammenleben? 

Das System der Harmonisierung der Egoismen zeigt sich im Liberalismus in seiner klassischsten Form. Das genügt in der Tat, damit die Leute einander nicht die Kehle aufschlitzen und allenfalls miteinander in Frieden leben. Immerhin. Aber es gibt so keinen Grund, andere Menschen ins Leben zu rufen. Andere Leute ins Leben rufen ist eine höchst undemokratische Handlung. Man kann diese Leute nicht um ihre Meinung fragen: Wollen Sie geboren werden, ja oder nein? Kreuzen Sie bitte hier an…

Wenn Sie von Familie sprechen: In der christlichen Soziallehre, die auch als Antwort auf den Liberalismus entworfen wurde, gibt es den Gedanken der Subsidiarität, der die größtmögliche Verantwortung für die verschiedenen Gemeinschaftszellen des Zusammenlebens ermöglichen soll, ausgehend von der Familie, der kleinsten politischen Zelle…

Die Familie ist aber keine politische Zelle im eigentlichen Sinne, da muss man aufpassen. Das politische Leben richtet sich, genauso wie das wirtschaftliche Leben, an der Idee der Leistung aus. Ich leiste etwas und bekomme als Gegenleistung etwas: Geld, Ehre oder was weiß ich. Dabei ist die große Gefahr in unserer Gesellschaft, dass man den Menschen auf seine Leistungsfähigkeit reduziert. In der Familie hingegen hat jedes Kind eine Würde, ganz abgesehen von seiner Leistung. Man liebt seine Kinder, egal ob sie ehrlich, gesund oder krank sind. So sollte es zumindest sein. Doch dies kann sich die Gesellschaft, im Unterschied zur Familiengemeinschaft, nicht leisten. Es wäre höchst ungerecht, etwa den Mafioso wie den Heiligen unterschiedslos zu behandeln. Es ist normal, dass jemand, der mehr leistet, auch mehr bekommt, das Gegenteil wäre ungerecht. In der Familie ist dies anders. Daher existiert ein unvermeidlicher Konflikt zwischen Familien und politischem Leben.

Auf welche Weise kommt dabei die Subsidiarität ins Spiel?

Subsidiarität ist ein Prinzip das folgendes sagt: Wenn es der Familie gelingt, ihr Geschäft gut zu vollbringen, dann ist das toll. Wenn die Familie aber nicht im Stande ist, dies zu tun, dann soll die bürgerliche Gesellschaft unterstützend eingreifen. Wenn es der bürgerlichen Gesellschaft gelingt, zu tun, was sie zu tun hat, dann ist auch das gut. Wenn allerdings auch die bürgerliche Gesellschaft dies nicht schafft, kommt der Staat ins Spiel. Erst wenn eine kleinere Instanz aus irgendeinem Grund nicht im Stande ist, das zu leisten, was sie leisten sollte, dann darf und muss die höhere Instanz eingreifen.

Subsidiarität schützt die Familie aber nicht nur vor dem Staat, sondern auch vor dem Markt. Das sind heute die zwei mächtigsten Hauptfeinde der Gemeinschaft der Familie, beide ziehen in eine gleiche Richtung: Das Ideal des Staates ist der vereinzelte Bürger, der einfach seiner Schul-, Wehr- und Steuerpflicht nachkommt. Das Ideal des Marktes ist der vereinzelte Konsument und Arbeiter.

Der deutsche Staatsrechtler und Rechtsphilosoph Böckenförde sagte, dass der säkulare Staat von Voraussetzungen lebt, die er selber nicht garantieren kann. Was meint er damit?

Böckenförde hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Es gibt Leute, und er gehört dazu, die die Moderne als Schmarotzerin entpuppt haben. Das Verhältnis der Moderne zur früheren Welt ist ein Verhältnis des Parasitismus. Die Quellen der europäischen Kultur liegen in Athen und Jerusalem. Wir kommen nicht umher, unser Zusammenleben im Licht der griechischen Philosophie und des christlichen Religionsverständnisses zu betrachten. Deswegen würde ich jungen Menschen heute zurufen: „Lernen Sie Griechisch und Latein! Beschäftigen sie sich mit der großen Tradition der europäischen Kultur. Lesen Sie Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin, Dante, Goethe und die vielen.“ Sie und ihr Denken und Glauben bilden den Ast, auf dem der säkulare Staat sitzt und an dem er zu sägen pflegt.

Zum Abschluss eine persönliche Frage. Sie sind jetzt 73. Was half Ihnen persönlich für ein gelingendes Leben in Gemeinschaft?

Meine Frau Françoise und ich hatten das große Glück in einer Gemeinschaft von vielen Freunden zu leben. Das hat uns viel gelehrt. Wir sind nun seit 50 Jahren verheiratet. Trotzdem sage ich manchmal scherzhaft: „Es sind schon 50 Jahre, wo ich meine Frau nicht kenne.“ Wäre sie ein Gegenstand, würde ich sie kennen, klar. Aber sie ist ein Mensch und Menschen kann man nie ganz kennen. So wird das Interesse aneinander gegenseitig wachgehalten. Unsere Geheimtipps im Miteinander sind Geduld und Vergebung.

Françoise, die während dem gesamten Gespräch mit am Tisch saß, aufmerksam mithörte und zwischendurch die Gedanken ihres Ehemannes in hervorragendem Deutsch mit konkreten Beispielen ergänzte, lächelt glücklich. Sie findet den Satz der Philosophin Simone Weil treffend: „Mit reiner Liebe lieben heißt in den Abstand einwilligen, heißt den Abstand verehren zwischen einem selbst und dem, was man liebt.“ Denn, es sei gut, dass der andere anders ist als man selbst. Viel gemeinsames Leben scheitere an der Akzeptanz, dass der andere einen eigenen Willen habe. Auch nach 50 Ehejahren und vier gemeinsamen Kindern sei das nicht anders. „Und das ist gut so“, erklärt Françoise. Rémi strahlt mit ihr. Wir verabschieden uns, im Fribourger Städtchen wartet ja das „ausgezeichnete“ Antiquariat auf neue Leserschaft.

 MARTIN ITEN.

Hol dir die ganze Printausgabe! Einfach hier bestellen zu einem Preis, den du selbst festlegst. Melchior erscheint zweimal im Jahr mit gut 90 Seiten „Auf der Suche nach dem Schönen, Wahren, Guten“.

Rémi Brague,
Mitglied des Institut de France, geboren 1947 in Paris, ist ein französischer Philosoph mit den Schwerpunkten Religionsphilosophie, arabische und mittelalterliche Philosophie. Er unterrichtete als Professor an der Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne und hatte für viele Jahre den Lehrstuhl für Philosophie der Religionen an der Ludwig-Maximilians-Universität München inne. Zugleich lehrte er an den Universitäten von Boston und Lausanne. Sein Wirken und seine Publikationen wurden mit vielen Preisen, Anerkennungen und Ehrungen versehen.