12 Apr. Verteidigung des Menschen
Ein Gespräch mit dem Philosophen und Psychiater Thomas Fuchs über Menschheitsträume, den Humbug digitaler Unsterblichkeit und die Bedeutung der Leiblichkeit.
Das Gespräch ist im März 2021 in der Ausgabe Nr. 14 erschienen. Melchior erscheint zweimal im Jahr. Bestell dir hier die aktuelle Melchior Ausgabe zum Kennenlernen.
Herr Fuchs, Ihr neuestes Buch trägt den Titel „Verteidigung des Menschen“. Inwiefern muss man denn den Menschen verteidigen? Muss nicht eher alles andere vor dem Menschen verteidigt werden?
Thomas Fuchs – Diesen Titel muss ich schon allein deshalb rechtfertigen, weil es ein häufiges Unterfangen ist, den Menschen auf die Anklagebank zu stellen. Wir können genügend Gründe dafür finden, den Menschen als eine Plage des Planeten und als eine Plage seiner selbst anzusehen. Was ich dennoch verteidigen möchte, ist ein humanistisches Verständnis des Menschen von sich selbst, nämlich als einem seiner selbst bewusstes und verantwortliches Wesen. Wenn wir uns nach dem Muster unserer Maschinen verstehen, als Wesen, die nur von ihren Genen, Neuronen und den Algorithmen ihres Gehirns abhängig sind, dann geben wir die zentrale Voraussetzung auf, die wir brauchen, und das ist Freiheit. Nur im Bewusstsein ihrer Freiheit können Menschen ihr Leben und die Welt angemessen gestalten. Wenn sie sich als blind gesteuerte, in irgendeiner Weise manipulierte Wesen verstehen, die ihre Entscheidungen besser an künstliche Intelligenz- oder Expertensysteme abgeben, dann berauben sie sich des Wertvollsten, was sie benötigen, um zum Beispiel die ökologische Krise anzugehen. Es geht mir nicht darum, die Menschheit reinzuwaschen von den ganzen Problemen, die sie hervorgebracht hat. Nein, es geht mir darum, ein bestimmtes reduktionistisches Bild des Menschen abzuwehren, das unserem grundsätzlichen humanistischen und humanen Selbstverständnis entgegengesetzt ist.
Bei Sophokles gibt es dieses geflügelte Wort: „Ungeheuer ist viel, doch nichts ist ungeheurer als der Mensch.“ Als Psychiater und Philosoph müssen Sie sich bestimmt oft mit dem sonderbaren Wesen des Menschen herumschlagen. Worin besteht seine Eigenart?
Das Ungeheure des Menschen liegt vor allem darin, dass er zu sich selbst Stellung nehmen kann. Dass er damit einerseits von sich selbst absehen, andererseits sich aber auch vorstellen kann, was er alles sein könnte. Seine geistige Existenz eröffnet ihm einen Raum der Freiheit, die über alles hinausführt, was an Gegebenem, Gewohntem, an Selbstverständlichem vorliegt, und die ihn in Sphären führen kann, die gleichermaßen Chance wie Gefahr darstellen. Sphären, die ungeheure Potentiale eröffnen, die aber auch ungeheure Katastrophen mit sich bringen können. Der Mensch ist in jeder Beziehung des Wortes ein ungeheuerliches Wesen, auch das „Ungeheuer“ steckt ja darin. Es kann einem Angst und Bange werden. Der Mensch ist, mit Helmuth Plessner gesprochen, durch seine ex-zentrische Position aus der Mitte des selbstverständlich vor sich gehenden Daseins herausgeworfen, damit befähigt zu einer ungeheuren Freiheit, befähigt aber auch zum Missbrauch seiner Möglichkeiten, schließlich auch zum Bösen. Das ist die Bedeutung des sophokleischen Satzes.
Sie haben die durch unser Denken ermöglichte Dimension des Aus-sich-Heraustretens angesprochen. „Ich denke, also bin ich“ ist zu einem wirkmächtigen Satz geworden. Sind wir denn hauptsächlich unser Denken?
Das würde ich eher nicht sagen. Unser Denken ist zwar in der Tat das, was uns alle Gegebenheit, alles Faktische übersteigen lässt, was uns ja auch Transzendenz in einem metaphysischen und religiösen Sinn ermöglicht. Zunächst aber ist unser Denken einmal ein virtueller Vorgang, ein „Probehandeln“, wie Freud es einmal genannt hatte. Wir versetzen uns mit einem „als ob“ in eine imaginäre Perspektive, was verbunden ist mit der Möglichkeit der Simulation von Alternativen – „was wäre wenn“. All dies ist aber gebunden an die tatsächliche Verkörperung, an unsere Leiblichkeit, die wir ja nicht wirklich verlassen können. Eigentlich dient das Denken von seiner Funktion her ja auch der Leiblichkeit, insofern es uns in einer schwierigen Situation befähigt, Optionen durchzuspielen, mit dem Ziel, die Problemlösungen auch umzusetzen, also das Denken wieder ins Leben einmünden zu lassen.
“Unsere Erfahrung, unser implizites Wissen und unsere intuitive Vertrautheit mit der Welt sind in Algorithmen nicht zu fassen.”
THOMAS FUCHS
Denken ist auch insofern eine Funktion des Lebendigen, als ich ja nicht als ein rein geistiges Wesen denke, sondern in jedem Moment meiner Leiblichkeit inne bin. Ich habe eine Grundstimmung, eine Befindlichkeit, die mich trägt, einen Antrieb, der das Denken voranbringt, eine Zeitlichkeit. Das sind alles Voraussetzungen, die man leicht vergisst, die natürlich auch Descartes vergessen hatte, als er diesen berühmten Satz formulierte. Man kann nicht denken, ohne lebendig zu sein.
Sie schreiben in ihrem Buch, dass bewusstes Erleben nur in einem umfassenden ökologischen System von Organismus und Umwelt zustande kommt. Welche Konsequenzen hat der Umgang mit unserem eigenen Leib für den Umgang mit der Umwelt? Sehen Sie da einen Zusammenhang?
Das Verhältnis, das wir heute zu unserer Leiblichkeit haben, ist bereits geprägt von der Instrumentalisierung der Natur, die unser Naturverhältnis insgesamt kennzeichnet. Seit der Neuzeit wird die äußere Natur immer mehr als Material betrachtet, das unseren Zwecken dient und keine Eigentendenzen mehr aufweisen darf. Die Abschaffung der Teleologie, der Eigentendenzen der Natur, ist ein spezifisch neuzeitliches Programm, das uns ermöglichte, uns zum „Herrn und Meister der Natur“ zu machen, wie das Descartes formuliert hat. Daraus folgt aber, dass auch die Natur, die wir selbst sind, immer mehr verdinglicht und instrumentalisiert wurde. Mit großem Gewinn auf der einen Seite; denn die medizinischen Fortschritte sind nicht denkbar, ohne dass man den Leib in einem gewissen Sinne als ein mechanisches Gebilde betrachtet, das naturwissenschaftlich erforscht, manipuliert und behandelt werden kann. Mit dem großen Verlust auf der anderen Seite, dass die eigene Lebendigkeit und Leiblichkeit immer mehr zu einem Objekt, der Körper zur Maschine wurde, die man reparieren kann. Das ist eine Form der Verdinglichung des Leibes zum Körper. Je stärker diese Sichtweise zunimmt, desto mehr geht eine wichtige Fähigkeit verloren, nämlich die, sich der Spontanität, dem leiblichen Empfinden und Fühlen überlassen zu können. Es geht dabei auch etwas verloren, was man die Kultivierung des Leibes nennen kann. Die verschiedenen Möglichkeiten und Techniken, die leibliche Erfahrung zu verfeinern, die bis in den alltäglichen Vollzug etwa des Atmens, des Gehens, des Spürens, des handwerklichen Tuns oder der musikalischen Betätigung hineinreicht. Die entsprechenden Möglichkeiten müssen wir erst wieder erlernen, aufbauen und verfeinern.
Es scheint eine zweifache Tendenz zu geben, eine gleichzeitige Über- und Unterschätzung des Körperlichen. Einerseits hat der Körper einen extrem hohen Stellenwert. Man muss alle Bedürfnisse des Körpers erfüllen, sonst kann man sozusagen nicht leben, gleichzeitig scheint der spezifisch leibliche Ausdruck beliebig und bedeutungslos.
Es ist eine eigentümliche Ambiguität, die wir in unserem Verhältnis zum Körper haben. Die Optimierung des Körpers ist eine zentrale Erscheinungsform der gegenwärtigen Kultur. Mit medizinischen, sportlichen, kosmetischen und welchen Mitteln auch immer geht es darum, den eigenen Körper zu stylen und zu optimieren, um ihn nach außen möglichst präsentabel zu machen. Aber all dies zeugt, das wird ja schon erkennbar an den Formulierungen, von einem instrumentellen Verhältnis zum eigenen Körper. Der Körper als Ware, als Produkt, als etwas, das ich selbst forme und durch verschiedenste Messverfahren ständig kontrolliere. Was nicht in den Blick tritt, ist der Leib, also der Körper, der man ist, die leiblichen Empfindungen, Regungen, Bewegungen, die Resonanz, die man erlebt, wenn einen etwas anspricht, wenn man von etwas betroffen, erfasst, ja ergriffen ist. Das sind ganz andere Formen der Leiblichkeit, in denen gerade nicht das Beherrschen im Vordergrund steht, sondern, ein Stück weit, das sich dem Leib Überlassen. Die Hingabefähigkeit ist etwas spezifisch Leibliches.
In Ihrem Buch schlagen Sie im Gegensatz zu einer instrumentellen Ausbeutung einen ökologischen Umgang mit den Ressourcen des eigenen Leibes vor. Wie kann es lebenspraktisch gelingen, dass wir einen Zugang zu unserem Körper als Leib gewinnen?
Den Zugang zu den Zeitformen des Lebendigen und des Leiblichen zu gewinnen, halte ich für einen zentralen Aspekt. Diese Zeitformen sind rhythmischer und zyklischer, also wiederkehrender Natur, während die dominierende Zeitform in unserer Kultur eine lineare, in die Zukunft gerichtete ist: schneller, höher, weiter, in allen wirtschaftlichen und technologischen Prozessen. Der lineare Zeitmodus, der zur herrschenden Vorstellung dessen geworden ist, was wir unter Zeit verstehen, ist aber den zyklischen Prozessen, die unser Leben wesentlich ausmachen, entgegengesetzt. Denken Sie an die Schlafzyklen, an die Temperatur- und Energiezyklen, die den Tag bestimmen, an die jahreszeitlichen Zyklen oder auch an die Zyklen der Menstruation und der Fruchtbarkeit. Auf all diesen Zyklen beruht wesentlich unser Leben. Es vollzieht sich immer in Rhythmen, in periodischen Prozessen, in Phasen, die wiederkehren, einen Höhepunkt erreichen, wieder abflauen. Mit einem linearen Zeitregime überrollen wir sozusagen diese Zyklizität.
Es kommt nun bis in den Alltag hinein darauf an, die Rhythmizität wiederzugewinnen. Zum Beispiel durch Regelmäßigkeit, durch Rituale, die wiederkehren, aber auch durch achtsames Verweilen in der Gegenwart. Sicher in einem Ausgleich mit den linearen Prozessen, denn wir brauchen in gewissem Maße auch die in die Zukunft gerichtete Orientierung von Fortschrittsprozessen. Aber sie dürfen sich nicht soweit verselbständigen, dass sie in individuelle und kollektive Krisen führen. Die klassische individuelle Krise ist das Burnout. Burnout resultiert aus dem Überrollen der zyklischen Eigenprozesse des Körpers, so lange bis dessen Ressourcen erschöpft sind und man sich buchstäblich als ausgebrannt erlebt. Auf kollektiver Ebene sind es die zunehmenden ökologischen Krisen, die durch eine Missachtung der Nachhaltigkeit entstehen, im Hinweggehen über die zyklischen Regenerationsprozesse der Natur. Das alles sind Folgen einer linearen Zeitstruktur, die unsere Gesellschaftsprozesse und damit auch die individuellen Lebensformen seit der Neuzeit immer stärker charakterisiert. Wir können uns eine Gesellschaft ohne ständiges Wachstum, stetige Beschleunigung und Hypermobilität kaum noch vorstellen. Genau diese Beschleunigungsdynamik gilt es in den Blick zu nehmen.
Wir sind begrenzte, verletzliche, endliche Wesen. Die Zerbrechlichkeit zeigt sich nirgends so offenkundig wie in unserem Leib. Es ist fast ein Affront: Wir werden alt und vom eigenen Körper zusehends im Stich gelassen. Bisweilen keimt die Vorstellung auf, man wäre freier, wenn man seine körperliche Gestalt loswerden könnte. Wäre die Unabhängigkeit von unserem fragilen Körper möglicherweise die größte Freiheit?
Die Enge des Körpers zu verlassen, können wir uns vorstellen, weil wir auch geistige Wesen sind. Die Tatsache, dass es nicht möglich ist, es den Vögeln gleichzutun, sich in die Lüfte zu heben, die Flügel auszubreiten und sich gleiten zu lassen, kann dazu führen, dass ich mich in meinem Körper zu schwer, zu begrenzt fühle. Als Bild genommen, können Sie das jetzt auf alle Bereiche übertragen, in denen es darum geht, die Beschränkungen, die uns unsere Leiblichkeit auferlegt, zu überwinden. Bis hin zur letzten Beengung, die bedeutet, dass wir eine begrenzte Lebenszeit haben und irgendwann sterben werden. Dies hinter sich, oder unter sich zu lassen und vermeintlich schrankenlose Freiheit zu gewinnen, ist ein uralter Menschheitswunsch. Er führt heute dazu, dass man sich von den Entwicklungen etwa der künstlichen Intelligenz oder der gentechnologischen Veränderung des Körpers Möglichkeiten erhofft, sich vielleicht überhaupt von dieser irdischen und sterblichen Existenz befreien zu können.
Doch da scheint mir ein grundsätzliches Fehlverständnis vorzuliegen: Gerade unsere Fähigkeit zur Imagination, zur freien Bewegung im Raum des Geistes scheint nahezulegen, dass es so etwas wie reinen Geist überhaupt geben könnte. Geist, der sozusagen nur aus Zahlen, aus Mathematik, aus Information bestehen würde; aus Daten, die sich irgendwie aus dem Körper hinausziehen ließen, und die man als Information übertragen könnte. Das ist eine Illusion, denn ich habe ja schon zu Beginn darauf hingewiesen, dass unser Denken nur eine bestimmte Funktion des Lebendigen ist. Geist gibt es nur als verkörperten Geist. Um denken zu können, müssen wir zuerst einmal leben, und dazu bedarf es all der biologischen und biochemischen Prozesse, die im Körper und im Gehirn ablaufen, und die sich prinzipiell nicht als Algorithmen oder Informationen wiedergeben lassen.
Wenn Transhumanisten uns also ein Mind Uploading versprechen, so als ob wir unseren Geist aus dem Gehirn extrahieren und auf haltbarere Datenträger transferieren könnten, dann ist das Humbug. Das hat auch Konsequenzen für unser Verständnis von künstlicher Intelligenz oder von KI-Systemen in Robotern. Letztlich handelt es sich dabei immer nur um ausgelagerte Spezialfunktionen unserer eigenen Intelligenz, wie sie bereits seit der Neuzeit in Form von Rechenmaschinen entwickelt wurden. Ihre Nachfolger können heute erstaunliche Operationen ausführen und inzwischen sogar selbst bestimmte Entwicklungsprozesse durchlaufen – das ist sicher faszinierend, hat aber mit uns als leiblichen Wesen, als tatsächlich intelligenten, nämlich sich selbst verstehenden und sich selbst reflektierenden Menschen nicht das Geringste zu tun.
Sie sagen das so leicht, als wäre diese Unterscheidung vollkommen klar. Aber menschliche und künstliche Intelligenz greifen bereits ineinander. Wir delegieren vieles an Maschinen, weil sie fähiger sind als wir. Die Vorstellung, dass der Mensch der Zukunft eine Art vollkommene Maschine ist, scheint gar nicht so abwegig. Der optimierte Mensch wäre vermutlich sogar weit weniger zerstörerisch und widersprüchlich, als wir es sind.
Es ist eine verbreitete Vorstellung, dass es besser wäre, die Prozesse der Steuerung der Welt der künstlichen Intelligenz zu überlassen. Aber wir delegieren Entscheidungen nur vermeintlich an Algorithmen, die es besser „wissen“. Tatsächlich geben wir sie an die Menschen ab, die diese Algorithmen programmieren oder nutzen, wie etwa die großen Internetunternehmen Google oder Facebook. An sie geben wir die Entscheidungen und damit die Macht ab, nicht an die Maschinen. Maschinen können nichts entscheiden.
“Nur als verkörperte, leibliche Wesen sind wir aber auch füreinander wirklich.”
THOMAS FUCHS
Könnten Sie zur weiteren Klärung den Unterschied zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz kurz umreißen?
Die menschliche Intelligenz ist zunächst einmal an ein Selbstbewusstsein gebunden, denn sie braucht genau das, was wir zu Beginn angesprochen haben: die Stellungnahme zu sich selbst; die Fähigkeit, eine komplexe Situation von einem übergeordneten Gesichtspunkt aus betrachten zu können, sodass neue und andere Lösungen überhaupt in den Blick kommen können. Intelligent handeln zum Beispiel Hänsel und Gretel, die sich im Wald Zeichen machen, damit sie notfalls den Weg zurück finden. Dazu müssen sie sich selbst gewissermaßen von außen sehen, sich selbst in der Zukunft vorstellen können.
Leider hat sich der Begriff der „künstlichen Intelligenz“ heute durchgesetzt, das ist nicht mehr rückgängig zu machen. Doch sollten wir uns bewusst sein, dass alles, was daran intelligent ist, von uns selbst stammt. Wir sind es, die diese Maschinen programmieren und dazu befähigen, Rechenprozesse zu durchlaufen, die wir uns selbst ersparen, weil sie zu komplex, zu grenzenlos sind, um in einer endlichen Lebenszeit bewältigt werden zu können. Künstliche Intelligenz ist also ausgelagerte menschliche Intelligenz. Alles, was an einem Smartphone intelligent ist, hat ein intelligenter Programmierer entwickelt. Das Smartphone selber ist weder dumm noch intelligent, diese Begriffe lassen sich auf das Gerät gar nicht anwenden.
Menschliche Intelligenz zeichnet sich aber auch noch durch etwas anderes aus, nämlich, dass sie immer situierte Intelligenz ist. Situiert sein heißt: Ich bin in einem leiblichen, lebendigen Zusammenhang. Ich bin an dieser Stelle und betrachte die Welt aus einer spezifischen Situation heraus. Diese Situation ist immer auch eine gefühlte, eine gespürte, eine, die Werte vorgibt, die ich brauche, um in einer komplexen Welt, in der es um Leben, auch um Überleben, und um gemeinsames Leben geht, überhaupt zu Entscheidungen zu kommen. Entscheidungen treffen kann ich nur auf einer Wertebasis. Das ist ein ganz wichtiger Punkt: Es gibt keine rein rationalen Entscheidungen. Das mag Widerspruch auslösen, aber ich erkläre nochmals, warum ich dies so formuliere.
Jede Entscheidung muss in einem Wertehorizont gefällt werden. Bei Entscheidungen wird ja immer abgewogen. Etwas wird vorgezogen oder zurückgestellt, weil es bestimmten Lebensbedürfnissen entspricht. Ohne solche Lebensbedürfnisse gibt es nichts, was abgewogen werden muss, was vorteilig, was nachteilig ist, es gibt kein Gut, kein Schlecht. Woher soll dann die Entscheidung überhaupt ihre Grundlage beziehen? So, jetzt können Sie sagen, das geben wir alles an Maschinen ab. Aber Maschinen haben keine Werte. Wir können sie ihnen nur vorgeben und so tun, als hätten sie welche. Wir vergessen dabei, dass die Präferenzen bereits von uns selbst gewählt wurden. Das können wir zum Beispiel an den Fragen sehen, die Ethikkommissionen im Zusammenhang mit Elektroautos diskutieren. Soll man elektronische Autos so programmieren, dass sie, wenn zwei Verkehrsteilnehmer gefährdet sind, eher einen älteren Menschen totfahren oder ein Kind? Daran können Sie sofort sehen, dass ein elektronisches Auto niemals eine Entscheidung trifft. Es wird einfach dem Algorithmus folgen, nach dem es programmiert worden ist. Und über diesen Algorithmus entscheiden Menschen. Wenn wir also so tun, als würden wir einer künstlichen Intelligenz Entscheidungen überlassen, dann lügen wir uns in die Tasche und verbergen uns, dass wir oder mächtige Gruppen in der Gesellschaft es sind, die tatsächlich die Entscheidungen treffen.
“Der Tod ist noch immer die wirksamste Einschränkung unserer Neigung zu Egozentrik und Narzissmus.”
THOMAS FUCHS
Spezifisch menschlich scheint auch das Wissen um den eigenen Tod. Was bedeutet es für unser Leben, dass unsere Tage im Bewusstsein unserer Endlichkeit vergehen?
Zunächst würde ich sagen, dass es für unser Leben die grundlegende Voraussetzung all dessen ist, was man Sinn und Wert nennen kann. Man kann natürlich fragen, ob angesichts des Todes nicht alles sinnlos ist. Ich würde es umgekehrt formulieren. Gerade der Tod macht das Leben sinnvoll, und zwar in einem über das reine Empfinden hinausgehenden Sinn. Ich würde nicht sagen, dass das Leben eines Säuglings sinnlos ist, obwohl er vom Tod noch keine Ahnung hat. Das Leben genügt sich auch selbst. Hunger, Durst, Sättigung, Wärme, Gehaltensein – das ist alles in sich sinnvolles Leben. Aber wenn es darum geht, Sinn nochmal in einer anderen Weise zu erfahren als das, was überhaupt bedeutsam ist im Leben, dann ist das eine Erfahrung, die eigentlich erst angesichts des Todes in unser Leben tritt. Wenn es den Tod nicht gäbe, gäbe es das Besondere, Einmalige, Vergängliche und damit unwiederholbar Kostbare nicht mehr. Denn es wäre alles immer wieder möglich, ja die Welt wäre letztlich ein ständiges Fortlaufen des Immergleichen. Insofern glaube ich, dass der Tod die Grundlage dafür ist, dass wir unser Leben als kostbar erfahren können. Das klingt paradox, aber wenn man ein bisschen darüber nachdenkt, kann man sich dem zumindest annähern.
MAGDALENA HEGGLIN.
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