20 Jun Rita organisiert die Nacht
Es gibt Menschen die Tätigkeiten ausüben, ohne die der Organismus des Zusammenlebens nicht gleichwertig funktionieren würde. Zum Beispiel in der Taxi-Zentrale. Ein Besuch bei Zugs legendärster Telefonstimme.
Dieser Artikel ist im Oktober 2016 in der Ausgabe Nr. 5 erschienen. Melchior erscheint zweimal im Jahr. Bestell dir hier die aktuelle Melchior Ausgabe zum Kennenlernen.
„Taxi Keiser, grüezi! – Ja hoi Hermi, wo willst du denn noch hin? – Okay, ich schick dir einen vorbei. In 15 Minuten ist er bei dir. Nimm bis dahin doch noch ein Bier – Doch doch, eines verträgst du schon noch… Tschau tschau. – Walti, kannst du den Hermi an der Waldheimstraße abholen gehen? Aber pass auf, dort steht ein Blitzkasten.“ Es ist kurz vor 2 Uhr, seit Stunden klingelt das Telefon im Minutentakt. Eine feiernde Kleinstadt organisiert ihre Heimkehr. Das lokale Taxi-Unternehmen Keiser ist hierzu die Schaltzentrale für die meist alkoholisierten Reiselustigen. Am Firmensitz, in einem kleinen Raum hinter zwei Bildschirmen mit blinkenden GPS-Signalen, sitzt Rita. Vor sich hat sie eine Schachtel Zigaretten und einen Becher Kaffee aus dem Automaten vom Nebenraum. Und viele Zettel. Rita ist sozusagen die Reiseleiterin, sie organisiert die Nacht. Routiniert nimmt sie alle Bestellungen entgegen, rechnet spontan die für den Kunden entstehende Wartezeit aus, verteilt die Aufträge an die Fahrer und behält zu jeder Zeit den Gesamtüberblick. Und das alles in einem horrenden Tempo! Während sie über Funk eine Fahrt „schickt“, klingelt es bereits wieder: „Taxi Keiser, grüezi!“
„Sie ist hier in Zug bekannt wie Roger Federer. Jeder kennt sie und jeder liebt sie“, sagt Taxifahrer Joél, der sich gerade auf seinen Einsatz vorbereitet. Er wird das neunte Auto lenken, das heute im Einsatz steht, und sich von Rita durch die Nacht „herumbefehlen“ lassen. Ab 22 Uhr bis zirka um 7 Uhr am Morgen. Zwischendurch gibt es eine halbstündige, vom Gesetzgeber vorgeschriebene Pause. Dann werden in der Zentrale Zigaretten gequalmt und Witze gerissen. „Lustig muss es sein“, wirft Rita ein und lächelt verschmitzt. Eigentlich hatte sie damals, Ende der 60er Jahre, in einem Büro gearbeitet. Doch das war ihr schnell zu langweilig. Und eben: zu wenig lustig. So fing sie mit 21 Jahren an, Taxi zu fahren. Bei Taxi Keiser. Seither ist sie im Betrieb geblieben, nun sogar schon vier Jahre über die Pensionierung hinaus. Sie leitet die Zentrale immer von Freitag auf Samstag und von Samstag auf Sonntag. Also immer dann, wenn am meisten los ist. Heute ist es besonders viel. – „Es tut mir leid, alle meine Taxis sind besetzt. Ich kann frühestens in 30 Minuten eines schicken.“
Und dann verfährt sich auch noch eines ihrer Autos. Rita und die anderen Fahrer müssen über Funk helfen, damit das Ziel und die wartende Kundschaft doch noch gefunden werden. Sie beschreibt detailliert die Straßenabzweigungen und Schilder, nach denen sich der Fahrer orientieren soll; alles frei aus ihrem Gedächtnis. Doch das Taxi verliert natürlich erheblich Zeit und bringt auch Ritas Gesamtkoordination durcheinander. Ein kurzer Kommentar – „der fährt halt nicht so oft für uns“ – und weiter geht’s. Denn in der Telefonleitung wartet bereits ein rüschliger* Anrufer, der nicht genau weiß wo er sich befindet und wohin er das Taxi bestellen kann. „Beschreiben Sie mal, was Sie sehen, von da aus wo Sie stehen. – Aha, ein Hochhaus und einen Fußgängerstreifen. Ich weiß, wo Sie sind. Das Taxi kommt in 8 Minuten.“ Taxifahrer Markus, der gerade im Gang steht und Rauchpause macht, bemerkt bewundernd: „Rita kennt einfach jedes Haus in diesem Kanton. Die ist besser als jedes GPS.“
Die Technik ist es dann auch, welche Ritas Karriere dereinst beenden wird. Spätestens dann, wenn die Taxi-Koordination nicht mehr über Funk, sondern über das Internet passiert, wird sie aufhören. „Wenn man nicht mehr mit den Leuten reden kann, ist der Job hier langweilig.“ Viele ihrer Gesprächspartner seien in der Nacht zwar betrunken oder sonst speziell drauf. „Aber solche Vögel mag ich eben.“ Sagt es und verhilft einem weiteren Reisevogel zur sicheren Heimkehr. – „Tschau René, schlaf guet!“
*Ritas eigene Wortkreation für „einen Rausch haben“.
MARTIN ITEN