Zufriedenheit oder Glück
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Zufriedenheit oder Glück

Im Gespräch mit dem Philosophen Robert Spaemann über gründliches Denken, Wellness und den inneren Jubel als Unterton des Lebens.

Vorwort „Wissen Sie“, sagt Robert Spaemann im Laufe unseres Gesprächs, „ich bin nun alt und ich bin groß geworden in der Zeit des Nationalsozialismus und mit der tiefen Überzeugung, dass die herrschende Meinung falsch ist.“ Das tiefe Misstrauen gegen die Mehrheitsmeinung begleite ihn bis heute. Aber er sehe, dass es viele Menschen vorziehen, in einer Illusion zu leben, als der Wahrheit zuliebe aus der Geborgenheit des Mainstreams auszuscheren. Die Aussage, dass man so nicht mehr denke, lässt er nicht gelten. Das Denken müsse einer Prüfung stets standhalten können, ist Spaemann überzeugt, und ruft mir eine schöne Episode von Sokrates in Erinnerung. Sokrates vertrat die These, dass Unrecht leiden besser sei als Unrecht tun, worauf ihm sein Gesprächspartner Kallikles entgegnete: Aber lieber Sokrates, wer denkt denn so? Frag doch mal die Leute. Sokrates erwidert: Ich rede aber nicht mit denen. Ich rede ja mit dir und ich möchte wissen, ob du überzeugt bist von meinen Gründen. Und so wird sich nun im vorliegenden Gespräch zeigen, ob es gute Gründe gibt, über Wellness und Zufriedenheit hinauszugehen, um das Glück nicht zu verpassen.

Womit beschäftigt sich die Philosophie?

Eigentlich mit allem. Wenn man einer Frage auf den Grund gehen will, irgendeiner Frage, und man bei der Antwort darauf nach dem Grund dieses Grundes fragt, dann ist man in der Philosophie. Denn wenn wir normalerweise eine Frage beantworten, machen wir bestimmte Voraussetzungen. Ganz ohne Voraussetzungen kann niemand sprechen. Die Philosophie fragt nach diesen Voraussetzungen. Darum ist es auch keine Disziplin wie andere Disziplinen, bei denen es Spezialisten gibt. Es gibt eigentlich zweierlei Arten von Philosophie. Da ist die alltägliche Philosophie. Wenn wir uns unterhalten, kommen wir manchmal auf ein philosophisches Problem, wofür dann niemand speziell zuständig ist. Wenn wir auf ein philosophisches Thema kommen, können wir normalerweise ignorieren, dass Menschen schon vor über 2000 Jahren solche Fragen gestellt haben. Einer, der sich mit diesen Fragen beschäftigt, kann irgendeinen Beruf ausüben, das muss kein professioneller Philosoph sein. Aber wenn er es wirklich gründlich treibt, muss er danach fragen, was andere schon dazu gesagt haben. Wenn sich jemand eingehend mit Philosophie beschäftigt, wird er sich nicht scheuen, auch vergangene Positionen zu einer bestimmten Fragestellung einzunehmen.

Hofft man denn, dass sich durch die Wiederholung etwas Neues zeigt?

Ja, die menschliche Reflexion, die unendlich ist, kann einen Schritt weiter gehen. Es gibt im Grunde genommen keine Kompetenz. In der Philosophie kann man sagen: Ich habe sehr lange gebraucht, um mir die vergangenen Positionen anzueignen. Das ist ein Unterschied zu den anderen Wissenschaften. In der Physik beispielsweise ist das letzte Lehrbuch maßgebend. Sie können sagen: Das ist jetzt der aktuelle Stand der Wissenschaft. In der Philosophie gibt es in diesem Sinne keinen Stand der Wissenschaft. Es gibt hingegen einen Stand der Reflexion. Wenn Sie jetzt sagen, der und der hat das gesagt, dann würde ich sagen, ja, vielleicht hat er recht, vielleicht auch nicht, aber er macht bestimmte Voraussetzungen. Bei diesen Voraussetzungen beginnt die Philosophie zu arbeiten.

Was wären Ihrer Ansicht nach die Eigenschaften eines guten Philosophen?

Man muss bereit sein zu ungewöhnlichen Fragen, zu sogenannt letzten Fragen und zu ungewöhnlichen Antworten.

„Letzten Endes wollen wir ja nicht unser Wohlbefinden um jeden Preis einer Illusion verdanken.“

 Robert Spaemann

Dann freue ich mich jetzt auf ungewöhnliche Antworten. Herr Spaemann, was bedeutet Glück aus philosophischer Sicht?

Das ist zum Beispiel ein solches Thema, für das es keine Kompetenz gibt. Die Antworten, die gegeben wurden, die sollte man kennen. Wenn jemand über Glück redet, meint er oft einfach Wellness. Er fühlt sich wohl. Manche Leute sagen, das reiche ja auch. Aber nehmen wir einmal an, ein König führt eine Schlacht, welche die Endschlacht in einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung ist, und man bringt ihm die Nachricht, er habe gewonnen, obwohl er in Wirklichkeit verloren hat. Aber das erfährt er nicht mehr, sondern er stirbt mit dem Bewusstsein gesiegt zu haben und gerettet zu sein. Oder Sie haben einen lieben Menschen. Ihr liebster Mensch, der sich irgendwo weit weg befindet, ist schwer krank. Sie bekommen aber die Nachricht, dass es ihm gut gehe. Jetzt ist die Frage, was möchten Sie lieber? Wollen Sie lieber getäuscht werden und mit dieser Täuschung leben, bei der Sie sich wohl fühlen? Wollen Sie nur das Wohlgefühl haben, das entsteht, wenn Sie eine gute Nachricht bekommen? Ein Mensch, dem es überhaupt mit irgendetwas ernst ist, der wird sagen: Lieber möchte ich nicht getäuscht werden, denn es kommt mir auf den lieben Menschen an und nicht auf mein Wohlgefühl. Klar, es gibt Leute, die wollen betrogen werden, na schön. Aber da verabschiedet sich die Philosophie. Natürlich, wirklich glücklich ist er nur, wenn er die gute Nachricht bekommt und wenn sie außerdem stimmt. Aber wenn das nicht geht, würde er es vorziehen, an der Wahrheit zu leiden, als mit einer Lüge glücklich zu sein. Die Meinung, dass es nur um Wohlgefühl geht, scheint mir heute weit verbreitet zu sein, aber in Wirklichkeit ist es so, dass wir das, was uns als das Gute erscheint, wirklich erreichen wollen und dass es auch das ist, worauf es ankommt.

Wenn Glück nicht Wellness meint, was ist es dann? Wie würden Sie Eudaimonia, den in der Philosophie viel diskutierten Begriff für das Glück, definieren?

Naja, ich denke dabei immer an Aristoteles, der sagt: gelungene Praxis. Eudaimonia ist eine menschengemäße, gelungene Praxis, zu der auch das Wohlgefühl gehört, aber nicht als das Wichtigste. Die Wahrheit ist dabei wichtiger, als dass wir oberflächlich zufrieden gestellt werden. Man muss auch unterscheiden zwischen Zufriedenheit und dem, was die christlichen Philosophen als beatitudo, felicitas (Glückseligkeit) bezeichneten. Es gibt einen Begriff vom Glück, der seine Totalität meint. Gelungenes Leben einschließlich der Erfüllung unserer elementaren Wünsche. Aber diese Wünsche, von denen wünschen wir wiederum, dass sie kompatibel sind mit der Wirklichkeit. Allerdings sagt dann zum Beispiel Augustinus im Anschluss an Varro, dass die Philosophen das Glück alle sehr verschieden definieren. Varro hat, glaube ich, 289 Definitionen von Glück aufgeführt. Wichtig aber ist der Unterschied zwischen wirklicher Erfüllung und bloßer Zufriedenheit. Viele Philosophen, gerade antike Philosophen, die Stoiker zum Beispiel, haben gelehrt, dass der Mensch zufrieden sein soll. Die Philosophie ist dann die Kunst, diese Zufriedenheit zu erzeugen. Ein Mensch kann aber zufrieden sein mit dem, was er hat, und trotzdem nicht wissen, was Glück ist. Wenn dann ein anderer kommt und sagt: Du hast aber gar nichts anderes, kann er sagen, das sei ihm egal, er sei zufrieden. Er merkt gar nicht, dass ihm etwas entgeht, etwas von dem inneren Jubel, der einem in bestimmten Augenblicken erfasst oder dauerhaft als Unterton mitschwingt.

Sie sprechen von einem „Unterton“ und „innerem Jubel“. Ist Glück etwas, wofür es sich lohnt, die Zufriedenheit aufzubrechen? Zufriedenheit scheint doch eigentlich der sicherere Wert zu sein.

Es gibt Menschen, die wollen lieber zufrieden sein, als nach Glück zu streben, und Augustinus sagt sogar, dass vollkommenes Glück unter irdischen Bedingungen gar nicht erreichbar ist. Für ihn ist es der Glaube, der die Hoffnung auf Erfüllung, auf Glückseligkeit beinhaltet. Glück ist aber nicht dasselbe wie Zufriedenheit. Ich kann ganz zufrieden sein und plötzlich bricht eine ganz große Liebe ins Leben ein. Ob das nun eine erfüllte Liebe ist oder nur eine Sehnsucht – dann ist es aus mit der Zufriedenheit. Außerdem ist es so, dass die Philosophen, welche die Zufriedenheit über das Glück stellen, wie zum Beispiel die Stoiker, eine gewisse Unempfindlichkeit gegen fremdes Leid propagieren. Das ist wie der Herr Karl, die Figur des österreichischen Kabarettisten Qualtinger. Der Herr Karl ist zufrieden. Auf ganz niedrigem Niveau. Und wenn er den Rettungswagen hört draußen, tatütata, dann sagt er sich bloß: Karl du bist’s ned.

Dann wäre der Typus des Liebenden dem Zufriedenen entgegengesetzt? Kann einer, der sich nur um die Zufriedenheit bemüht, gar kein echter Liebender sein?

Ja, das ist so. Der Zufriedene kreist letzten Endes immer um sich selbst. Das ist aber nicht mit Glück vereinbar. Unser deutsches Wort Glück ist da übrigens zweideutig, denn es kann sowohl beatitudo (Erfüllung, Glückseligkeit) als auch fortuna (glücklicher, günstiger Zufall) bedeuten.

In welchem Verhältnis stehen Zufall und Glück?

Es kann jemand Glück haben und dennoch unglücklich sein. Oder es kann jemand glücklich sein, obwohl sein Leben von unglücklichen Ereignissen gezeichnet ist. Philosophen haben oft gelehrt, die Eudaimonia unabhängig zu machen von der Gunst des Schicksals, von der fortuna. Natürlich, wenn beides zusammenfällt, dann ist das Glück vollkommen. Wichtiger ist auf jeden Fall eine Erfüllung von etwas Gutem, dessen man sich bewusst ist.

„Eudaimonia, Glückseligkeit, ist nicht einfach Wellness, sondern gelingendes Leben und Bewusstsein dieses Gelingens.“

 Robert Spaemann

Heute macht es den Anschein, dass ein gelungenes, glückliches Leben ein unabhängiges, selbstbestimmtes und kontrolliertes Leben, vor allem aber ein Leben ohne Leiden ist. Behinderte, alte oder kranke Menschen überfordern uns deshalb. Sehen Sie diese Tendenz auch?

Ja, diese Tendenz besteht. In Bezug auf das Leiden gibt es nur eines: Wo immer man die Gelegenheit hat, das Leid zu mindern, es zu tun. Das ist eine praktische Lösung, keine theoretische. Da muss man nicht erklären, warum jemand eigentlich glücklich sei, während es ihm hundeelend geht. Aber ein völlig schmerzfreies Leben gibt es unter irdischen Bedingungen eigentlich kaum. Ein völlig schmerzfreies Leben wäre vermutlich auch gar nicht das, was wir erstreben, wenn wir Glück erstreben. Schmerz gehört mit zum Reichtum der menschlichen Wirklichkeitserfahrung. Und der Glückliche ist unbedingt im Einklang mit dieser Wirklichkeit.

Was hat es für Konsequenzen, dass wir als Menschen in der Lage sind, unser Leben als Ganzes zu sehen? Inwiefern beeinflusst die Fähigkeit vorausdenken und uns erinnern zu können unser Glück?

Die menschlichen Zustände haben einen vektoriellen Charakter. Nehmen wir mal einen Menschen, der ganz viele glückliche Augenblicke im Leben hat, dem es aber zum Schluss katastrophal geht, und einen anderen, bei dem es umgekehrt ist: Es ging ihm immer schlecht, aber allmählich wird es besser und zum Schluss ist sein Zustand gut. Wer von beiden ist glücklicher? Es ist eine falsche Art ein Kalkül aufzubauen, indem man die Glücksmomente aneinanderreiht. Es kommt auf die Richtung an. Der, bei dem es immer besser wird, ist am Ende glücklicher als der, bei dem es bergab geht.

Das heißt die Verlaufsrichtung und nicht die Menge an Glücksmomenten ist entscheidend?

Ja, auf den vektoriellen Charakter kommt es an. Das ist ja auch immer die Lehre der Weisen und der religiösen Lehrer gewesen, das rescipe finem: Bedenke das Ende. Das, worauf es am Ende hinausläuft. Da geht es nicht um eine Aneinanderreihung von Zuständen, sondern um eine Grundtendenz. Wenn man sich zum Beispiel wahnsinnig gefreut hat auf etwas, wochenlang, monatelang, und dann zeigt sich, dass alles eine Illusion war und ein Mensch mich in Wirklichkeit die ganze Zeit über betrogen hat. Der Neurophysiologe müsste sagen, es ist ja alles gut. Jetzt hast du wenigstens die Vorfreude gehabt. Wenn man diesen vektoriellen Charakter ignoriert, versteht man nicht, worum es eigentlich geht. Bei der Vorfreude geht es auch um die Erfüllung dessen, worauf man sich gefreut hat.

Welche Rolle spielt das Gewissen? Ist das Gewissen ein Spielverderber auf der Suche nach Glück?

Naja, wenn man gegen das eigene Gewissen handelt, kann man nicht glücklich sein. Aber nicht jeder ist glücklich, der seinem Gewissen folgt. Es ist einerseits trivial zu sagen, dass man nicht glücklich sein kann, wenn man gegen sein Gewissen handelt. Gleichzeitig kann man, wenn man seinem Gewissen folgt, auch der größte Verbrecher sein, ein Terrorist zum Beispiel. Die Terroristen bei uns in Deutschland in den 60er Jahren, die sind zum Teil ihrem Gewissen gefolgt, waren von einer Hoffnung beseelt. Man weiß es nicht genau. Das heißt, es gibt das gute und richtige Handeln und dazu gehört, dass es dem Gewissen folgt. Aber nicht jedes Handeln, das dem Gewissen folgt, ist deshalb schon gut und richtig. Es ist wichtig zu sehen, dass das Gewissen kein Orakel ist, das uns offenbart, was gut und was schlecht ist. Die Vernunft sagt es uns. Die praktische Vernunft, die das Richtige und das Falsche unterscheiden lehrt. Denn die Frage ist, woran sich das Gewissen orientiert. Es wird ja an einer objektiven Norm gebildet. Das Gewissen mahnt mich innerlich, der Einsicht, die ich gewonnen habe, zu folgen. Das ist die Stimme des Gewissens. Aber die Stimme des Gewissens ist ein Echo. Den eigentlichen Ruf hör ich vielleicht gar nicht. Und das Echo kann mich auch täuschen. Man kann das Richtige nicht tun, wenn einem das Gewissen sagt, es sei das Falsche.

Unlängst habe ich in einem Interview gelesen, dass jeder ein Recht auf größtmögliche Glückseligkeit hat. Würden Sie dem zustimmen?

Nein. Es gibt kein Recht auf Glückseligkeit. Es gibt ein Recht, wie die amerikanische Verfassung sagt, auf die Suche nach Glück: „the pursuit of happiness“. Es gibt ein Recht, bei der Suche nach Glück nicht behindert zu werden. Dazu gehört, Bedingungen bereitzustellen, die ein glückliches Leben begünstigen. Ob einer dann wirklich glücklich wird, ist aber nicht mehr alleine von diesen Bedingungen abhängig. Es ist interessant, dass in den Ethikhandbüchern der Neuzeit zwei Begriffe kaum vorkommen, die zwar mit Glück zu tun haben, auf die aber ebensowenig Anspruch geltend gemacht werden kann. Der erste ist Freundschaft. Bei Aristoteles gibt es ein langes Kapitel darüber. In der modernen Ethik hingegen ist das kein prominentes Thema. Das andere ist Verzeihung. Verzeihung ist etwas Schöpferisches. Es bedeutet, etwas, das ganz falsch war, durch Verzeihung zu annullieren. Es ist die größte Fähigkeit des Menschen, verzeihen zu können. Dadurch schöpft man die Wirklichkeit um, aber nicht durch Betrug, nicht durch Täuschung, sondern durch eine reale Veränderung der Situation. Wie bei der Glückseligkeit gibt es auch darauf keinen Anspruch.

Sie haben das Thema Freundschaft ins Spiel gebracht. Kann der Mensch alleine glücklich sein? Welche Rolle spielt der andere in Bezug auf das Glück?

Eine sehr große. Der Mensch kann weder alleine glücklich sein noch für sich alleine.

„Liebe heißt, erfahren, dass das Leben selbst der Grund des Glücks ist und dass es keines weiteren Grundes bedarf.“

 Robert Spaemann

Wie erklären Sie sich, dass ausgerechnet Menschen so hoch geschätzt werden, die ihrem persönlichen Glück zuwider handeln? Beispielsweise Maximilian Kolbe, der für einen anderen Menschen freiwillig in den Hungerbunker ging und dadurch sein Leben verlor?

Maximilian Kolbe hat, indem er sein Leben für einen anderen Menschen hingegeben hat, eben gerade nicht seinem Glück zuwider gehandelt.

Inwiefern?

Er wollte das in einem Akt der Liebe und auch der Vernunft. Er war kein Altruist in dem Sinne, dass der andere besser wäre, weil er ein anderer ist. Er fand es in der Situation das Beste, als Priester sein Leben für den anderen hinzugeben, weil der andere Familienvater war und zuhause gebraucht wurde.

Wenn selbst die Erhaltung des eigenen Lebens nicht zuoberst auf dem Glücksbarometer steht, kann dann überhaupt ein handfestes Ziel angegeben werden?

„Bedenke doch, o Kallikles“, sagt Sokrates in einem Gespräch im Gorgias, „ob es nicht etwas Besseres gibt, als retten und sich retten lassen.“ Wir sind ja nicht auf der Welt, um uns bloß am Leben zu erhalten. Der Wunsch nach Erhaltung des Lebens würde in dem Augenblick verschwinden, indem ich mein Leben verliere. Auch in Bezug auf die ganze Menschheit ist es nicht der alleinige Sinn, dass sie sich erhält. Es muss etwas anderes geben, das die hohe Bedeutung rechtfertigt.

Und was wäre das?

Die Selbsttranszendenz, das Hinausgehen über sich selbst, ist so etwas. Der Mensch kann eigentlich nur unter seiner Möglichkeit bleiben oder über sich selbst hinausgehen. Mir scheint, dass wir heute sehr auf Beseitigung aus sind. Alles, was das Glück stört, muss aus dem Weg geräumt werden. Glück wäre dann Hindernislosigkeit.

Sie haben zu Beginn im Zusammenhang mit dem Glück den Begriff der Fülle gebracht. Fülle klingt so gar nicht nach Hindernislosigkeit, sondern nach mehr.

Für Schopenhauer sind die nie endenden Hindernisse ein Signal dafür, dass das wirkliche Glück gar nicht möglich ist. Weil das Leben letzten Endes doch nur immer wieder auf die Selbstbehauptung hinausläuft. Die christliche Tradition hat eine Metapher für das ewige Glück: das Mahl. Ein Mahl ist nicht nur die Beseitigung von Mangel, sondern auch eine Erfüllung, vor allem, wenn es ein gutes Essen ist. Max Scheler wurde einmal in einem Gasthaus vor einem opulenten, aufwändigen Mahl angetroffen. Jemand sagte zu ihm: „Ach, Sie, Herr Scheler, ein Philosoph bei solch irdischen Genüssen.“ Darauf antwortete Scheler: „Mein Herr, wo steht geschrieben, dass der liebe Gott die guten Sachen nur für die Idioten gemacht hat?“

Nachtrag „Wissen Sie“, sagte Professor Spaemann bei der Vorbesprechung am Telefon, „die Tagesform ist in meinem Alter manchmal Glückssache.“ Für die Autorin wurde die Begegnung mit dem großen Denker Robert Spaemann jedenfalls zu einem Glücksfall.

  MAGDALENA HEGGLIN

 

Robert Spaemann,
geboren am 5. Mai 1927 in Berlin, habilitierte 1962 in den Fächern Philosophie und Pädagogik und war bis 1992 ordentlicher Professor an den Universitäten Stuttgart, Heidelberg und München. Spaemann verfasste zahlreiche Publikationen, die internationale Beachtung erlangten. Als Intellektueller hat er sich auch immer wieder in öffentliche Grundsatzdebatten eingebracht.erfasste zahlreiche Publikationen, die internationale Beachtung erlangten. Als Intellektueller hat er sich auch immer wieder in öffentliche Grundsatzdebatten eingebracht.

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„Das vollkommene Glück wäre die Quadratur des Kreises.“