Unser Vorschuss an Glück
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Unser Vorschuss an Glück

Diese Kolumne ist im Oktober 2019 in der Ausgabe Nr. 11 erschienen. Melchior erscheint zweimal im Jahr. Bestell dir hier die aktuelle Melchior Ausgabe zum Kennenlernen.

Lieber Josef, 

wir kennen uns noch gar nicht lange – so wollte ich meinen Brief an Dich beginnen. Aber das wäre nicht richtig gewesen. Drei Wochen bist Du nun auf der Welt, kennen tun wir uns aber fast schon ein Jahr. Ich wusste irgendwann sogar gar nicht mehr, was das heißen soll, Du kommst auf die Welt. Erstaunt habe ich zu Deiner Mama gesagt, dass Du ja schon auf der Welt bist, auf ihren Bauch gezeigt und gesagt: „Er muss nur noch da raus.“ Wir haben gescherzt, dass man im Grunde zweimal Geburtstag feiern dürfe, oder vielleicht einmal Geburts- und einmal Lebenstag. Immerhin bist Du schon vor Deiner Geburt mit uns umgezogen, hast mit uns Prüfungen geschrieben, bist mit uns in den Urlaub gefahren, hast mit uns geheiratet. Immerhin warst Du schon vor Deiner Geburt unser Kind. Aber was heißt das eigentlich?

Ich glaube, es ist für Eltern gar nicht leicht, ihr Kind zu lassen, wie es ist, selbst wenn es noch nicht „auf der Welt“ ist. Als Du noch nicht „auf der Welt“ warst, haben wir uns mit Christine Nöstlingers „Konrad“ oder „Das Kind aus der Konservenbüchse“ aufs Elternwerden vorbereitet. Der Konrad ist das perfekte Kind: brav, höflich, fleißig. Warum bringt er dann das Leben der Frau Bartolotti, vor deren Tür er eines Tages steht, so durcheinander? Nicht, weil perfekte Kinder perfekte Eltern brauchen (was die Frau Bartolotti wahrlich nicht ist). Eher weil das perfekte Kind nicht das perfekte Kind ist. Ein Kind muss gar nichts sein, um perfekt zu sein. Vor allem muss es nicht perfekt sein.

Natürlich wollen Eltern vorbereitet sein. Zugleich wussten wir, dass Du nicht anders hättest zu uns kommen können, als Du kamst. Wir mussten uns nicht für Dich entscheiden, wir hätten Dich nicht planen können. Wir waren planlos und doch vorbereitet, oder besser: bereit. Bereit anzunehmen, was uns geschenkt wurde. Und darin der Frau Bartolotti gar nicht so unähnlich. Sie liebt den Konrad, vielleicht gerade weil er ihr Leben so ordentlich durcheinander bringt. Ohne Dich wäre unser Leben ganz anders verlaufen, es war ganz anders geplant. Aber Du hast uns eine Freiheit gezeigt, von der wir nichts wussten. Die Freiheit für Dich. Ein Platz in uns, der von sonst nichts hätte besetzt werden können.

Ich denke, deshalb will ich Dir einfach Danke sagen. Weil mein Weg durch Dich ein anderer wurde als der, den ich dachte, vor mir zu haben. Weil uns das Leben durch Dich eine Aufgabe gestellt hat, die wir annehmen wollten, und weil uns so viele dabei geholfen haben, sie anzunehmen. Denn das ist an Dir sowieso das Verwunderlichste und Wunderbarste: der Vorschuss an Glück, den Du gewährst. Dafür sage ich Danke.

In Liebe, Dein Vater

 PETER TARRAS, 32, forscht und arbeitet an der Uni, ist seit drei Wochen und neun Monaten Vater und wusste bis vor kurzem nicht, wie gut er wickeln kann.