04 Apr Einsatz mit dem Ohr des Herzens
Kurz nach dem 14. Geburtstag war für Petra Schuh klar: „Ich werde Krankenschwester oder gar nix.“ Im Rahmen der Pflegefachfrau-Ausbildung während einer Praktikumswoche beim Rettungsdient der Stadt Bonn entdeckte sie mit Begeisterung den Beruf der Rettungssanitäterin, wusste mit ihren 18 Jahren gleichzeitig, dass man in sich gefestigt sein muss und die Fähigkeit braucht, Entschlüsse zu fassen und die durchzuziehen. Und sie wusste auch, dass sie dafür noch zu jung war.
Dieses Porträt ist im März 2019 in der Ausgabe Nr. 10 erschienen. Melchior erscheint zweimal im Jahr. Bestell dir hier die aktuelle Melchior Ausgabe zum Kennenlernen.
1989 kam Petra für ein Jahr in die Schweiz. Aus dem Jahr sind mittlerweile fast dreißig geworden. Über 6100 Rettungseinsätze ist die lebenslustige Frau, die mit 35 zum zweiten Mal die Schulbank drückte, seither gefahren. Während der Ausbildung musste sie genau Buch führen und hat die Einsatzstrichliste gleich beibehalten. Wenn ein besonders herausfordernder Einsatz ansteht, hilft ihr die Erfahrung: „Mir ist bis jetzt immer noch was eingefallen, mir wird auch heute wieder etwas einfallen.“
Vor zehn Jahren, am 19.10.09, erwachte die stark erkältete, von Geburt auf schwerhörige Petra und merkte, dass irgendetwas nicht stimmte. „Auf der Toilette musste ich schauen, ob die Spülung läuft, da ich nicht einmal mehr ein minimales Rauschen vernahm. Ich wusste, ich habe ein riesiges Problem.“ Nach etlichen Untersuchungen konnte man ihr sagen, dass sie so gesund sei, wie man in ihrem Alter nur gesund sein kann, dass sie aber das Gehör eingebüßt habe. Man vermutete das Cytomegalievirus, das das Gehör innerhalb von kürzester Zeit vollständig löschen kann.
Die Rettung der Rettungssanitäterin
Es folgte eine lange Nacht, denn taub hat man als Rettungssanitäterin keine Perspektive. In den schlaflosen Stunden studierte Petra alles, was sich über das Chochlea-Implantat, eine elektronische Innenohrprothese, finden ließ, und wusste, dass das ihre Rettung sein könnte. Das Implantieren war jedoch erst der Anfang, denn es ist ein sehr technisches Hören, es klingt so ungefähr wie die Stimme im Raumschiff Enterprise, die aus dem nirgendwo kommt. Erst mit den Monaten und Jahren kann man die roboterartigen Stimmen auseinanderhalten und differenzierter wahrnehmen. Am Keyboard hat sie trainiert, einzelne Töne gedrückt und darauf geschaut, wo sich ihre Hände befinden. Posaune hat Petra vor der langen, schlaflosen Nacht gespielt. „Nicht besonders gut, aber sehr gerne.“ Eineinhalb Jahre nach dem Eingriff ist sie wieder in den Musikverein zurückgekehrt.
Manchmal wird sie von den Mitmenschen hart angegangen, auch vorverurteilt. Im Sommer beispielsweise wurde Petra von einer älteren Dame im Zug gefragt, von welchem betreuten Wohnen sie komme, dass sie allein Zug fahren dürfe. Sie war so baff, dass sie zunächst an sich runterkuckte, ob vielleicht die Bluse nicht richtig zugeknöpft sei. Alles war, wie es sein sollte. „Ich bin Kommandantin der zweiten Staffel des Zürcher Rettungsdienstes und werde wohl noch allein mit dem Zug fahren dürfen.“ Die Dame hat sich verlegen und stilvoll entschuldigt und sie kamen ins Gespräch über den Chip an Petras Hinterkopf. Das sei noch eines der harmloseren Erlebnisse, wobei sie glücklicherweise zu denen gehört, die nicht auf den Mund gefallen sind.
Mit allen Sinnen hören
Petra, die als Verantwortliche einer Dienstgruppe ein 30-köpfiges Team führt, erlebt ihr Handicap jedoch nicht nur als hinderlich. Sie kann sich am Einsatzort gut fokussieren, weil sie gelernt hat, störende Geräusche auszublenden und sie hört auf ihre Intuition. Auch ihre übrigen Sinne hat sie geschärft. „Ich habe ein recht gutes Gespür entwickelt, wann wir erhöhte Vorsicht walten lassen sollten und in Gefahr geraten.“ Bisweilen beschert ihr die Einschränkung auch das eine oder andere lustige Erlebnis. Als sich die Lernenden einmal in der Garage darüber unterhalten haben, wie alt sie wohl sei, ist sie die 7-8 Meter quer durch die Garage gegangen, an den Fahrzeugen vorbei und meinte: „Du könntest mich auch direkt fragen.“ Das Mädel sei fast aus den Stiefeln gefallen. „Das kannst du unmöglich gehört haben.“ Sie hat es auch nicht gehört, sondern von den Lippen gelesen. Petra liebt die Arbeit mit den Menschen, schätzt den respektvollen Umgang und Vertrauen ist ihr ein hochsensibles Gut, mit dem sie sehr sorgfältig umgeht.
„Habe ich wirklich nach bestem Wissen und Gewissen mein Bestes gegeben?”
Es gibt immer etwas, was man tun kann
„Ich bin schon ein paarmal in Bedrängnis geraten, bin auch wenigstens einmal wirklich um mein Leben gerannt, aber es ist nicht die Regel, dass wir bedroht werden, das passiert einfach mal ab und zu.“ Petra hat für sich einen Weg gefunden, möglichst ruhig zu bleiben und auch das Alter helfe ihr bei der Gelassenheit. Der Löwenanteil der Einsätze sind tagsüber chronische oder akute Krankheiten und zu Randzeiten Gewaltdelikte oder Schlägereien. Am Wochen- ende generieren in der Stadt Zürich leider vor allem Alkohol- und Drogenexzesse sehr viele Fahrten. Bei solchen sinnlosen Notfällen kommt man als Rettungssanitäter schon an seine Grenzen, da es genügend Menschen auf dieser Welt gäbe, die wirklich krank oder in Schwierigkeiten sind. Damit umzugehen, dass man nicht immer allen helfen kann, ist eine Herausforderung. Vor allem am Anfang waren schlimme Unfälle eine Belastung. Einerseits gibt es natürlich das Medizinisch-Fachliche, auf das hin man die Situation akribisch überprüft: „Habe ich wirklich nach bestem Wissen und Gewissen mein Bestes gegeben?“ Andererseits muss man als Rettungssanitäter wissen, dass man nicht für das verantwortlich ist, was passiert ist, sondern für die Nothilfe. „Wenn wir reanimieren müssen, jemanden verlieren, oder wenn ich einfach sicher bin, dass es eine ungute Entwicklung nehmen wird, dann finde ich es immer beruhigend, dass ich nie nichts mehr tun kann.“ Petra zündet dann auf dem Heimweg eine Kerze an für die Person und empfiehlt sie demjenigen „Rettungshelfer“, der noch viel mehr könne als sie.
Fast tagtäglich bekommt sie aufgezeigt, dass das Leben endlich ist und dass es keine Berechtigung dafür gibt, 70 oder 80 zu werden. Petra hat Menschen jünger sterben sehen und weiß, dass nichts selbstverständlich ist. Der Beruf hat ihr gezeigt, dass schnell nichts mehr so ist, wie es einmal war. „Das hat mich Zufriedenheit gelehrt und das Bedürfnis geweckt, hier und jetzt zu leben, was mir wichtig ist.“ Die muntere Powerfrau hält sich gerne an die schönen Erlebnisse. Da war beispiels- weise dieser kleine Junge, der vom Triemlispital ins Kinderspital verlegt werden musste. Wenn man in diese Richtung gefahren wird, geht es einem eigentlich gar nicht gut. Doch der Bub war wach genug, um sich fasziniert im Wagen umzuschauen. „Er hat mich gefragt, ob ich wisse, warum er der Jüngste sei in der Familie. Da war ich echt gespannt. Weil er der Letzte sei, der im Jahr Geburtstag hat. Das war herzig.“
Petra liebt an ihrem Beruf, dass sie nie weiß, was der Tag mit sich bringen wird. Das Alter berge die Gefahr, dass man sich bequem einrichtet und genau um 9.00 Uhr Znüni (Zwischenmahlzeit) essen muss, damit die gute Laune erhalten bleibt. Petra lebt lieber intensiv im Augenblick – es gibt bei ihr genau dann Znüni, wenn es Zeit ist. Klar schätzt sie es sehr, wenn sie an einem Feiertag auch mal frei hat, aber man könne an Weihnachten oder Ostern schließlich etwas Dümmeres machen, als ein Menschenleben zu retten.
Zwei Tage nach dem Gespräch wird Petra um 4.56 Uhr durch den Pager aus dem Tiefschlaf geholt. Ein Carunfall auf der A3 mit über 40 Verletzen. Großeinsatz – sofort einrücken. Während in den Häusern das Licht angeht, die Menschen sich die Müdigkeit aus den Augen reiben und den Sonntagszopf anschneiden, ist sie bereits wieder auf dem Rückweg.
MAGDALENA HEGGLIN
Hol dir die ganze Printausgabe! Einfach hier bestellen zu einem Preis, den du selbst festlegst. Melchior erscheint zweimal im Jahr mit gut 90 Seiten „Auf der Suche nach dem Schönen, Wahren, Guten“.
Petra Schuh,
ist mit Leib und Seele Rettungssanitäterin. Auch als sie gehörlos wurde, blieb ihr der Beruf Berufung. Tagtäglich hat sie vor Augen, dass das Leben endlich ist, was sie umso mehr in ihrer Lebensfreude bestärkt.