01 Dez Im Trauerjahr
Die Lyrikerin Nora Gomringer verlor innerhalb kurzer Zeit zwei liebe Menschen. Ein Gespräch über Trauer. Und warum in ihr ein Kanarienvogel hilft.
Das Gespräch ist im November 2021 in der Ausgabe Nr. 15 erschienen. Melchior erscheint zweimal im Jahr. Bestell dir hier die aktuelle Melchior Ausgabe zum Kennenlernen.
Frau Gomringer, mögen Sie den Herbst?
Nora Gomringer – Ja. Weil er nicht mit dem Diktat des „Geh raus, sei draußen, zeig dich!“ zu tun hat. Es ist das Einläuten des Rückzugs und der hibernation, der Überwinterung. Trotzdem hat der Herbst etwas sehr Konstruktives. In der Natur passiert nochmals viel, das Farbenspiel erwacht und die Wege werden mit Laub bedeckt. Ich mag es sehr gerne, dass man auch in einem Rhythmus ist und in ihm leben muss.
Ist es wichtig, das Leben zu rhythmisieren?
Ja, ich glaube, dass Strukturen sehr helfen. Um sich selbst als Mensch kennenzulernen, ist es wichtig, in Rhythmen zu leben. Ich komme aus einem tiefen Bedürfnis nach einer gewissen Regelhaftigkeit und begreife mich auch als Frau als ein Wesen, das bestimmten Gesetzmäßigkeiten ganz konkret unterworfen ist. Dabei will ich überhaupt nicht biologistisch sein und klingen, aber man merkt es einfach in den verschiedenen Stufen, in denen mal älter wird, dass man ein Wesen ist, das der Biologie angehört. (lacht)
Biologische Wesen sind endlich. Und gerade im herbstlichen Absterben der Natur erahnen wir, dass auch unsere Blätter einmal fallen werden. Ihren Gedichtband „Gottesanbieterin“ widmen Sie ihrem Freund Tim, den Sie in seinem Sterben begleitet haben. Wer war Tim?
Tim war ein Freund, den ich durch Tinder kennengelernt habe. Ich schätzte und mochte ihn sehr. Er war ein kluger Beobachter dieser verrückten Welt des Anbahnens und Fortschwirrens. Wir haben viel miteinander besprochen, uns ausgetauscht. Tim war sein Leben lang schwer krank und lebte sehr zurückgezogen. Er hatte gute Freunde, aber er wusste, dass sein Leben medizinisch und biologisch sehr begrenzt ist. Jedes weitere Jahr war für ihn ein Wunder. Er wurde öfters für bald tot erklärt und hat dann doch gelebt, bis er 41 war.
Wie ging Tim mit dem Bewusstsein um, dass er sterben wird?
Er hat offen darüber gesprochen und uns immer wieder vor vollendete Tatsachen gestellt. Er sagte: „Wer weiß, ob ich nächstes Jahr noch da bin.“ Das hatte irgendwie was Komödiantisches, er hatte diese Lakonie und Abgeklärtheit, die man manchmal im jüdischen Humor hört; „Willst du Gott amüsieren, dann mache Pläne.“ Hohoho. (lacht) So in dieser Art. Es war toll, jemand kennenzulernen, der ganz klar und lauter auf diese Kante entgegensieht, die einfach auch eine Grenze ist, eine Beendung, eine Finis.
Im Dezember 2020, nur ein halbes Jahr nach der Erscheinung des Gedichtbandes, starb auch Ihre Mutter Nortrud. Ein weiterer Todesfall prägte Ihr Leben. Was hat das mit Ihnen gemacht?
Der Tod einer Mutter ist eine ganz andere Nummer. Die hat mich …
(denkt lange nach)
“Realisieren, dass da nie wieder jemand den Namen so spricht wie man es gewohnt war.”
NORA GOMRINGER
Also, das hat mich wirklich schachmatt gesetzt. Ich reagierte körperlich darauf, ich hatte zehn Tage lang schlimme Nervenschmerzen in den Beinen. Ich fragte meinen Freund, was denn los sei, ich könne nicht mehr laufen. Klar, ich heulte nur und saß rum, musste ja dieses und jenes erledigen. Aber ich hatte derart Schmerzen in den Beinen. Dann sagte er: „Du hast shell schock.“ Bei Trauer gehen die Schmerzzentren offenbar in die Nervenbahnen des unteren Körperbereichs. Mir ging es elend, richtig elend. Es gab die Phase des Schmerzes, es gab eine mit viel Wut, eine mit Schuld, mit Scham. Immer auch das Sehnen, das unheimlich Sehnen. Und das Realisieren, dass da nie wieder jemand den Namen so spricht, wie man es gewohnt war. Und all die Dinge, die ich mir nicht gemerkt habe, und alles, was ich jetzt nicht mehr weiß, nicht mehr abrufen kann… Oh Gott! Inzwischen ist es fast schon eine Phase der Verdrängung, um auch wieder Wochen am Stück arbeiten zu können. Irgendwann beginnt man, alles in eine Kiste zu stecken, nicht mehr viel darüber zu sprechen.
Verändert sich auch das Andenken?
Ich erwische mich immer wieder dabei, wie ich denke: „Ach, das hat meine Mutter immer so und so gemacht.“ Oder: „Schau, jetzt gibt es wieder Schälnüsse und Steinpilze.“ Dazu hätte meine Mama wohl gesagt: „Kauf mir bitte ein paar Steinpilze, wenn du dort vorbeikommst.“ Durch ein Jahr zu gehen, das erste Jahr, das Trauerjahr, ist so schwer. Das war eben der Unterschied zu Tim. Dort begleitete ich seine Eltern, wie sie durch das erste Jahr gingen, in dem ihr Kind nicht mehr da war. Es ist was ganz anderes, wenn man eine fremde Familie darin begleitet und beobachtet, wie sie ihr Kind verliert.
Ihre Mama hingegen starb eher unvermittelt.
Meine Mutter war noch nicht bereit zu sterben. Sie fühlte, dass sie schwächer wird. Aber der Tod hat sie total überrascht, ja. Und auch mich. Es fühlt sich an, als würde sich der Wurm nicht durch das Erdreich quälen, vielmehr zermalmt das Erdreich am Wurm entlang. Ich habe auch fast nur solche inneren Bilder: Des sehr Klein-Seins, des sehr Ohnmächtig-Seins. Ich habe wahnsinnig viel geweint, einfach irre viel. Ich glaube, dass die Trauerarbeit – auch wenn sublimiert und wenn weggeschoben – eine wirkliche Arbeit ist. Entweder arbeitet es in dir, oder du nimmst es direkt an und arbeitest selbst damit.
“Ich habe wahnsinnig viel geweint, einfach irre viel.”
NORA GOMRINGER
Waren Sie durch die Erfahrungen von Tims Tod ein bisschen auf jenen Ihrer Mutter vorbereitet?
Nein. Die Trauer um Tim war für mich – nach doch eineinhalb Jahren – schon irgendwie abgeschlossen gewesen. Wenn man so trauert, dass man schockiert ist über den Tod von jemand, sorgt das bei mir bildlich gesprochen zu einer Diffusion. Alle meine Teile waren weit von mir entfernt, ich musste wirklich gucken, wie ich mich wieder zusammenbaue und zusammensetze. Irgendwann war es aber so, dass ich wieder meine Kontur hatte, meine Form, meinen Kern. Der Nukleus war wieder bedeckt vom Mensch Nora Gomringer. Doch dann, beim Tod der Mutter, schoss alles wieder ganz neu auseinander. Und das dauert jetzt noch länger an, das merke ich klar.
Mir ist aufgefallen, dass in der Todesanzeige Ihrer Mutter der Satz stand: „Die Trauer lässt uns verstummen.“ Kann man stumm verarbeiten, gar trauern?
Wie das so ist, Trauerkarten schreibt einer aus der Familie, der nicht gelähmt ist. Das war einer meiner Brüder, ich habe mit diesem Satz nichts zu tun. Im Gegenteil, da gibt es unheimlich viele Worte, die ich meiner Mutter hinterhersprechen wollte. Ich könnte reden, reden, reden. Das war auch mein erstes Bedürfnis, ich saß in der Nacht nach dem Tod da und habe versucht, alles aus meinem Kopf aufzuschreiben, was ich von meiner Mutter gelernt habe. Ich habe wie eine Manische getippt, stundenlang. Alles: Welche Filme ich nur wegen ihr geguckt habe, wie ich die Eier unterschlagen muss… Ach Gott, dieses verrückte Mutter-Cloud-Wissen. Diese Cloud, die jetzt kein Server mehr hat, die jetzt einfach server-los ist. Mein kleiner Hub ist geöffnet und ich wollte unbedingt aufschreiben, was da noch ist. Ich hätte nicht von Verstummung geschrieben, aber es war natürlich völlig in Ordnung. Wir sind ja acht Kinder, das mache ich nicht alleine.
Ist das Gefüge von Familie also etwas, das einen durch die Trauer durchträgt?
Tragen tut die Familie nicht, ich muss sie tragen. Das ist mein Drama. Ich bin das Muli der Familie. Das ist zwar de facto nicht richtig so, weil ich einen Bruder habe. der viel stärker involviert ist in der Sorge um meinen Vater und ihn jeden Tag sieht. Ich habe ja sieben Brüder. Aber ich bin aus der Ferne die Organisierende, ich bin die, die die größere Planung macht. Das ist auch eine fordernde Last auf einem.
Leuten gegenüber erzähle ich immer von diesem Gefühl – welches familienkonstellatorisch so viel ausmacht –, dass es mir vorkommt, als wäre man durch die Trauer in einer Schneekugel hochgeschüttelt worden. Wir als Familie sind diese einzelnen Flimmerteilchen und wir setzen uns jetzt innerhalb des Trauerjahres langsam ab, so als Sedimente unten. Da wo wir dann landen, da sehen wir einander und verstehen: Das ist jetzt die neue Konstellation. Ich vielleicht näher am Vater, mein Bruder auch. Wir beide müssen mit dem Vater intensiver arbeiten, andere Brüder sind ebenfalls herangerückt oder auch fortgezogen. Zurzeit ist alles noch im Schweben. Funktionieren tut es zwischendrin trotzdem, wir leben ja alle, es hat keinen Hiatus gegeben. Obwohl man so sehr gewünscht hätte, dass die Welt einen kurzen Moment Anteil nimmt, daran, dass ein wichtiger, lustiger, ein toller Mensch gegangen ist. Aber es ist ja auch richtig, dass sie für keinen anhält.
Sie haben jetzt mehrmals den Begriff „Trauerjahr“ verwendet. Das klingt nach Tradition und Ritual. Mir kam dabei die Zeile eines ihrer Gedichte in den Sinn. Dort schreiben Sie: „Ich bin die Christin, die durch Riten die Rätsel annimmt.“ Ist das Trauerjahr ein solcher Ritus, um sich des Rätsels Tod anzunehmen?
Sie treffen es damit genau. Denn ich bin so dankbar, allein diese Sprachregelung zu haben und den Leuten sagen zu können: Lassen Sie mich damit jetzt noch mal ein paar Monate in Ruhe, ich bin noch im Trauerjahr. Ich bin dankbar, dass es eine Konvention gibt in Europa, die darauf noch reagiert. Und die lassen einen wirklich in Ruhe. Das ist fantastisch für jemanden, der in der Tat ständig für irgendwas angefragt wird und sich manchmal nicht gut wehren kann. Riten helfen, all diese Dinge in Form zu halten, in Abstand zu einem selbst. Ich kann Riten durchführen, ohne dass ich etwas fühle. Ich kann dann aber auch den Ritus wieder mit Gefühlen aufladen. Deshalb ist der Ritus etwas Interessantes, er ist wie ein Gefäß unter den Gefühlen, eine Art Hohlkörper unter den gesellschaftlichen Formen. Den kann man wieder füllen. Es hat aber viel damit zu tun, womit man selbst angefüllt ist, ob mit Freude oder Trauer.
Sie sind noch mit Trauer angefüllt?
Ja, meine Trauer ist zäh. Und schwer. Ich bin sicher, es gibt auch Trauer, die viel mehr Freudenanteile hat. Wahrscheinlich hat auch meine Trauer irgendwann Freudenanteile. Es hat etwas Bittersüßes, an jemand zu denken, der nicht mehr da ist. Den man kannte und von dessen Präsenz man so beschenkt war, dass man beim Gedanken an die Person beseelt ist. Meine Trauer hat derzeit noch ein Mischverhältnis mit 60 Prozent Lähmung. Ich finde es wie Melasse: Ein Stoff, der anstrengend ist und sich nicht gut formen lässt.
Sie hoffen auf die Zeit?
Now, I have agency over my life. Das zu sagen war mir zeitweise nicht möglich. Dabei habe ich den Initialschock, dieses unglaubliche Widerstreiten der Gefühle in einem, ja quasi nur für eine Mutter erlebt. Wo doch die Hälfte der Menschen sagen: „Naja, so ist das halt, Mütter sterben irgendwann.“ Ja aber, sie war auch mein einziger Mensch in dieser Familie, der mich meinte, der mich mochte, der für mich da war. Ich habe meinen Menschen verloren. Ich habe zum Glück noch diesen Vater, der ist mir aber nicht so nah. Wir mögen uns und ertragen uns, er muss mich auch sehr oft aushalten und will auch Dinge von mir, die ich ihm irgendwie organisiere, wo ich helfe. Aber ich bin irgendwie immer der falsche Mensch. Und ja, das ist er für mich auch. Es sind alles solche Gefühlsdinge. Gefühle sind aber auch einfach Betrüger. Sie täuschen und scherzen mit einem. An einem Tag sind sie leicht wie Balance und am anderen Tag schwer wie Teerklumpen. Und man denkt: „Son Quatsch!“
“Gefühle sind auch einfach Betrüger. Sie täuschen und scherzen mit einem.”
NORA GOMRINGER
Was hilft, dass man sich nicht von Gefühlen durch die Trauer treiben lässt?
Es klingt vielleicht komisch, aber ich versuche eigentlich kein zu emotionales inneres Gespräch zu führen, sondern eines, das auf eine gewisse rationelle Betrachtung führt. Mit der Fähigkeit, sich selbst distanziert zu betrachten. Mein innerer Dialog mit Gott, mein Gebet, ist eine Art Distanz, die ich auch zu mir selbst aufbringe. Ich führe Gott quasi meine Gedanken vor, indem ich so spreche: „Siehst du, was ich jetzt mache? Ist doch ein Wahnsinn, was ich da alles stemmen muss! Ich bin überfordert! Siehst du das?“ Dieses völlige Eingeständnis ohne Beschönigung ist vielen Leuten ganz fremd und es ist beschwerlich.
Es ist ein schmaler Grat zwischen Trauer und Depression.
Tatsächlich muss man aufpassen, dass eine Trauerphase nicht in eine tiefe Depression hineinführt. Am schlimmsten ist, im Leben zu stehen, aber keinen Zugang zur eigenen Kraft zu spüren. Eine tiefe Depression ist genau sowas: Du findest den Zugang zu deiner Energie nicht. Ich verstehe, dass Menschen sich von Menschen abwenden, welche sehr depressiv werden, weil sie traurig sind. Das ist auch völlig nachvollziehbar. Ich bin Kind einer Mutter, die wahnsinnig depressiv war für lange Jahre ihres Lebens. Das baute die ganze Familie um. Dass meine Mutter nochmal zurückgekommen ist ins Leben und nochmal 20 Jahre so was wie meine Mutter war, ist unglaublich. Vorher war ich zehn Jahre lang quasi ihre Mutter, ich musste alle Tätigkeit übernehmen und wahnsinnig erwachsen sein vor meiner Zeit. Es war ein großes Geschenk, als ich erleben durfte, wie sich das wendete.
Was hilft denn, dass Trauer nicht zur Depression wird?
Kürzlich schrieb ich einer Freundin, die gerade ihren Vater verloren hat: „Jetzt geht’s ins Bergwerk.“ So fühlt sich das an, wie ein Einzug in ein Bergwerk. Man sieht die Bergarbeiter, sie ziehen ihre Anzüge an, haben den Helm auf und steigen auf die Plattform. Dann drückt einer den Knopf und sofort geht es runter in die Tiefe. Suuuum… Es kann sehr tief runter gehen – es gibt eine kurze Phase, in der die Welt dir zugesteht: „Du darfst nach ganz unten steigen. Oder fallen.“ Einer muss aber den Kanarienvogel dabeihaben, er muss merken: „Halt, jetzt sind wir zu tief, hier ist überhaupt keine Luft mehr.“ Denn, wenn du nicht siehst, dass es da keine Luft mehr gibt, dann bist du da unten verloren. So empfinde ich das. Also schrieb ich meiner Freundin, dass ich ihr einen Vogel wünsche. (lacht) Natürlich einen Kanarie, der mit ihr den Weg durch diese Tiefen geht, dahin wo sie jetzt hin muss, wo die Trauer sie hinführt. Selber fühle ich für mich gerade, dass es wieder nach oben geht. Ich fahre hoch.
Sie sprachen eben Ihren Glauben an Gott an. Im Gedichtband „Gottesanbieterin“, in dem sie einen mehrseitigen Abschnitt dem verstorbenen Tim widmeten, gibt es eine grafische Finesse. Der Abschnitt wird mit einer doppelseitigen Schwarzfläche eingeführt, endet dann aber doppelseitig weiß…
… das ist ganz toll, dass Ihnen das auffiel! So was fällt keinem Menschen mehr auf. Aber klar, Sie sind Grafiker und haben ein Auge dafür…
… natürlich bemerkte ich dies. (lacht) Wollen Sie mit dieser visuellen Sprache die hoffnungsvolle Perspektive Ihres Glaubens andeuten, dass über allem, auch über der Dunkelheit des Todes, letztlich ein lichtvolles Gut steht?
In Kategorien von gut und schlecht sehe ich das nicht. Das gute Leben ist eines, in dem der Lebende fühlt, dass er Agent seiner eigenen Kräfte ist. Er kann Dinge tun, den Stift bewegen, den Lichtschalter betätigen. Er kann, wenn er will, hinaustreten. Er kann ein Gespräch führen, weil da hoffentlich jemand ist. Oder er kann ein Gebet sprechen und wird deswegen nicht getötet oder um sein Leben bedroht. A life well lived ist wahrscheinlich eines, in dem einer das Gefühl hat, dass er etwas tun und realisieren kann. Sonst wär’s ja nicht zu erklären, dass Leute dasselbe Gefühl von Satisfaktion haben, wenn sie einen Apfelkuchen backen oder wenn sie auf einer Demo mitlaufen. Es sind sehr unterschiedliche Dinge, und trotzdem sind es Dinge, die etwas mit dem eigenen Willen, mit der Entscheidungsfreiheit und mit dem Lebenkönnen zu tun haben.
Vor einigen Wochen veröffentlichten Sie auf Facebook einen kurzen Text unter dem Foto von einer Kirche in Frankreich. Ihre Mutter betete dort offenbar jeweils und zündete stets eine Kerze an. Sie taten es ihr nun gleich und schrieben dazu: „Und wenn’s alles nichts ist, nichts nützt, nichts bedeutet, so liegt in der Nachahmung der Gesten Trost. Und Staunen.“ Können Sie etwas über diesen Trost der Nachahmung sagen?
Ich ahme meine Mutter in vielen Dingen nach, kann nicht in eine Kirche gehen und keine Kerze anzünden. Ich bin reich beschenkt, dass ich einen Partner habe, der das alles mitmacht. Und ich danke es ihm, indem ich es nicht zu sehr überlade und nicht sage: „Wir machen jetzt alles wie meine Mutter.“ (lacht) Nachahmung, fast schon Mimikry, das hat was. Mir hat es sehr geholfen zum Beispiel Kleidung meiner Mutter zu tragen. (überlegt) Sie war sehr begeisterungsfähig, konnte motivieren. Ich habe mir immer gewünscht, dass ich auch so ein Mensch sein kann für andere. Es ist im Leben so wichtig, dass einer an dich glaubt. Meine Mutter konnte das wahnsinnig gut.
Auf der einen Seite wünscht man ja allen Menschen, dass sie dem Schmerz entgehen können. Aber dann war’s wahrscheinlich kein Leben, denn in der Lebensdauer allein passieren einfach Ereignisse, die Leid verursachen. Wenn man bewahrt wird davor, den Tod der Angehörigen zu erleben, so erlebt man den Tod des Nachbarn. Irgendwann wird einer aus dem Haus getragen, in dem man lebt. Das erschüttert zutiefst. Obwohl ich verbrieft sagen kann, dass ich seit ich vier Jahre alt bin, jeden Tag einmal an den Tod denke.
“Die Lakonie besitze ich zu sagen, ich nehme es hin, ich bin dein.”
NORA GOMRINGER
Seit 37 Jahren täglich? Was passierte denn, als Sie vier waren?
Da starb das erste Meerschwein und ich realisierte: „Das ist jetzt wirklich weg, das kommt nicht wieder.“ Wir waren Kinder auf dem Land. Ich habe dem Schlachten zugeschaut, gesehen wie die Hühner ohne die Köpfe rumrennen, erlebt wie man Abschied von Schweinen nimmt, mit denen man nebenher gespielt hat und die dann am nächsten Tag geschlachtet werden.
Wie denken Sie heute über den Tod?
Jetzt weiß man um viel mehr Situationen, wie die Menschen sterben, weshalb sie Sterben. Deshalb ist das Sterben etwas anderes als der Tod geworden, es gibt eine Differenzierung. Ich habe furchtbar Angst vor dem Sterben und all der Last, die man denen aufgibt, die nach einem noch da sind, die einem aus dem Leben räumen müssen. Wieviel Last wird man sein? In verzweifelten Situationen denke ich auch darüber nach, ob denn überhaupt einmal jemand an meinem Grab steht und weint? (lacht)
Wie denke ich heute über den Tod nach? (überlegt) Während das Sterben ein Nachdenken in sehr erwachsenen Tönen geworden ist, mit Fragen zur Wirtschaftlichkeit, zum Schmerz, zum Schmerzmanagement, – und damit meine ich den physischen wie den mentalen Schmerz, – ist der Tod ganz kindlich geblieben. Der Tod kommt bei mir einher mit einer Hoffnung, dass es wirklich so was wie eine Wiederbegegnung gibt. Das fällt mir manchmal bei REWE an der Kasse stehend ein. Dann denke ich so: „Was, ich sehe diese Frau nie wieder? Das kann doch nicht sein!“ Ich meine, mir ist ja schon aufgefallen, dass ich meinen Opa nie wieder gesehen habe und die Meerschweinchen auch nicht. Ich bin dann sehr dankbar, dass ich einen Glauben habe, der mir eine Hoffnung schenkt. Eine Hoffnung! Nicht wenig.
Ihr Vater ist 96 Jahre alt. Denken Sie manchmal auch an seinen Tod, der rein rechnerisch bald stattfinden könnte?
Das Interessante ist: Ich habe es bei meinem Vater mit einem Mann zu tun, der selber nicht an seinen Tod denkt. Er ist noch immer berufstätig, fährt mit seinem Auto durch die Gegend und wirkt in zwei Stiftungen. Er hat natürlich auch Ausfälle bei sich bemerkt und realisiert: „Die Frau ist auch schon nicht mehr da, sie fehlt schrecklich.“ Mein Vater mag ja im Vergleich zu anderen Leuten ein komisches Verhältnis zu seinen eigenen Gefühlen haben, aber er ist unglaublich stark, weil er Schwäche nicht zulässt. Ich bin von daher mit jemandem konfrontiert, für den der Tod ein Affront ist, eine absolute Beleidigung.
Ihr Vater bezeichnet sich im Gegensatz zu Ihnen auch nicht als Christ. Wie schaut er auf den Tod?
Das war bei Tim auch so. Von ihm hat man sich verabschiedet, da hat er einem ins Gesicht geguckt und gesagt: „Wir sehen uns nie wieder.“ Das war furchtbar hart, weil ich immer noch diese kleine Tür gerne hätte, wo man durchgeht und denkt: „Ah, zum Glück ist da zumindest ne Wiese.“ Aber der hat ganz klar gesagt: „Da gibt es nichts.“ Wie das für meinen Vater ist, wage ich nicht anzusprechen. Ich habe einmal gefragt, ob er Angst vor dem Tod habe. Da hat er mir mit einer Art Entfernung geantwortet, da dachte ich: „Interessant, da ist jemand der nicht stirbt.“ (lacht) Und vielleicht ist es ja auch so. Es gibt Menschen, die nicht sterben – in ihrer eigenen Wahrnehmung. Wir sind alle erleichtert von alten Leuten, die den Tod annehmen. Aber es gibt so viele, in denen eine Rebellion dagegen ist. Lebhafter ist man ja mitunter mit weit über den 70. Was sind Menschen oft tot um die 20 herum, auch aus Lähmung, weil sie denken: „Was soll ich werden? Was kann ich machen? Der Planet explodiert, er wird zu heiß.“ Und wie viel weniger hat man Ahnung davon, was man eigentlich kann und was man will. Im Alter hat man es diesbezüglich wohl einfacher, man ist freier. Ich habe eine Sehnsucht, einmal so zu werden. Ein paar Jahre noch.
Bevor Sie sterben werden, was müssen sie noch erledigen im Leben?
Ich glaube, ich muss nichts mehr erledigen. Ich kann in diesem Moment sterben.
Sind sie schon bereit dazu?
Das ist wieder ne andere Frage. (lacht) Wenn Bereitschaft mit wollen zu tun hat, und würde jetzt hier der Tod mit der Sense stehen, würde ich ihn bitten: „Lass mich noch mal meinen Freund anrufen und bitte lass mich sagen können, was ich jeden Tag und viele Male am Tag sage: Dass ich ihn genieße und dass ich glücklich bin, dass wir uns kennengelernt haben.“ (überlegt) Dann möchte ich noch einmal einen Film gucken, den ich wirklich liebe. Und einen Hund streicheln. Und ich mag so gern noch eine Nacht in einem schönen Bett schlafen, ich schlafe so gerne. Solche Sachen. Da merkt dann der Tod: Aufschiebung! (lacht) Aber in der Tat, wenn ich jetzt gehen muss, dann ist das so. Die Lakonie besitze ich zu sagen, ich nehme es hin, ich bin dein.
Und Ihr Sterben? Wie wünschen Sie es sich?
Eigentlich würde ich gerne in ein Bild eingehen. In ein monochromes oder eines von Barnett Newman, in sein „Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue“ zum Beispiel. Davor ist ein langer Weg auf das Bild hin und dann wird man Teil des Bildes. Du gehst einfach ein und löst dich auf in dieser Kunstvision. Boah, das spricht mich an, diese Farbflächen, die miteinander vibrieren. Ich glaube, ich würde gerne eingehen in Farbe. Farbe werden.
Und wenn man es wirklich planen könnte, dann wär’s schön, wenn man schmerzfrei stirbt, müde wird, einen Hundewelpen auf dem Schoss. Und schön gemachte Nägel. Weil, auf schöne Nägel gucke ich sehr gerne und sie dann durch ein Hundefell eines fröhlichen kleinen Hundes kraulen zu sehen – so ein Geschenk wäre das. Und die Trauer der anderen nicht so schwer zu erleben. Falls andere trauern, sofern man wirklich das Glück hat nicht alleine sterben zu müssen, dann hätte ich gerne jemand da, der mich gerne nochmal anschaut. Ach je, es ist ganz rührend, wenn ich das jetzt so sage… (wischt sich eine Träne aus dem Gesicht)
Danke, dass Sie das alles mit mir geteilt haben.
Ich danke Ihnen.
MARTIN ITEN, 35, ist ein Frühlingsmensch und mag die Konfrontation mit dem Tod überhaupt nicht. Wird aber vom Leben stets wieder zu ihr „eingeladen“.
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