06 Apr. Nicht nur die Sonnenseite
„Hallooo und herzlich willkommen auf The Sunnyside.“ Es ist ein früher Morgen, ein Land Rover Defender steht in der Waldlichtung und ein bärtiger, junger Mann davor. In der Hand eine Tasse Kaffee. Phil beugt sich etwas vor, reibt sich gähnend den Schlaf aus den Augen und spricht direkt in die Kamera. Zu 20’000 Abonnenten auf Youtube. Phil und Karo teilen ihren nicht ganz alltäglichen Alltag im Internet.
Diese Reportage ist im März 2018 in der Ausgabe Nr. 8 erschienen. Melchior erscheint zweimal im Jahr. Bestell dir hier die aktuelle Melchior Ausgabe zum Kennenlernen.
„Ich hatte sonst nichts zu tun und habe dann halt einfach damit angefangen.“ Das erste Video stellte Phil exakt am 13. Januar 2015 online. Es war das allererste persönliche Filmchen überhaupt, das er jemals im Internet freigab. Anlass dazu war die bevorstehende gemeinsame Reise nach Australien. Noch immer kann man den Beitrag auf Youtube finden und sieht dabei, wie sich Phil und Karo mit administrativen Reisevorbereitungen abmühen. Dieses Video sollte nicht alleine bleiben, inzwischen sind hunderte weitere dazugekommen, mindestens eines pro Woche, meistens zwei oder mehr. Fast alle werden von über 10’000 Usern angeschaut, ein Video hat auch schon die 100’000er-Schallgrenze überschritten. Dabei fing alles sehr einfach an: „Ich erinnere mich noch genau an unsere ersten sechs Abonnenten“, erklärt Phil lachend. „Eine davon war Karo, der Rest waren Freunde.“
Karo (28) und Phil (36) stammen beide aus Deutschland (Karo aus dem Münsterland, Phil aus Wuppertal) und lernten sich über gemeinsame Freunde kennen. Für ihr Studium in Wirtschaftsingenieurwesen verreiste Karo 2015 für ein Austauschsemester nach Australien. Der damals freischaffende Kommunikationsdesigner Phil entschloss sich kurzerhand, mit seiner Freundin mitzugehen. „Damit es mir in Australien nicht langweilig wird, entschloss ich mich, einen Vlog zu starten.“ Ambitionen waren da keine dabei, hauptsächlich ging es den beiden darum, dass die Kommunikation mit den Daheimgebliebenen nicht abbrach. Und das funktionierte auch gleich. „Als wir wieder zuhause waren, mussten wir niemandem 3000 Fotos zeigen. Alle wussten schon von unseren Abenteuern, hatten sie quasi miterlebt“, erzählt Karo zufrieden. So entschlossen sich die beiden, auch weiterhin auf dem Youtube-Channel „The Sunnyside“ aus ihrem Alltag zu berichten.
Entlang der Panamericana
Inzwischen touren Karo und Phil mit einem selbstumgebauten Land Rover „Defender“ mit dem klingenden Namen „Willi“ durch Nordamerika. Nachdem sie im Norden Kanadas hoch bis über den Polarkreis und rüber nach Alaska reisten, sind sie nun unterwegs gen Süden, mit dem Ziel, irgendwann, in einem Jahr oder so, ganz unten im südamerikanischen Patagonien und Feuerland anzukommen. Ihr Auto ist gleichzeitig Fortbewegungsmittel, Schlafzimmer, Küche, Wohnbereich und Arbeitsplatz. Auf engstem Raum haben sie es sich so gemütlich eingerichtet, wie es nur geht. Auch diesen Prozess konnte man über Youtube genau mitverfolgen. Schließlich kauften die beiden ihren Defender nicht ab Stange, sondern als uralte und kaputte Rostlaube und bauten ihn selbst komplett neu zusammen. Und das, obwohl Phil vorher von Autos überhaupt keine Ahnung gehabt hatte. „Ich habe es als Bastelprojekt gesehen und Freunde haben mir dabei geholfen.“ Besonders die Videos über den Innenausbau haben großes Interesse geweckt, „unsere Klickzahlen sind dabei richtiggehend explodiert“, erinnert sich Phil. Auch heute noch, immer wenn die beiden irgendwas am Defender reparieren und davon ein Video online geben, schnellen die Zuschauerzahlen in die Höhe.
Doch die meisten Beiträge handeln von ihrer Reise. Man kann Karo und Phil zuschauen, wie sie im Yukon mit einem Kanu einen wilden Fluss runterpaddeln, wie sie auf abgelegene Berge steigen oder wie sie draußen in der Wildnis über offenem Lagerfeuer einen Lachsfisch braten. Zudem gibt Karo ab und an Kochtipps zum Besten und Phil zeigt atemberaubende Foto-Zeitraffer oder Naturaufnahmen, die er mit der Drohne filmt. Immer ist alles ungekünstelt direkt und von den beiden persönlich kommentiert. „Das Filmen ist inzwischen ganz automatisiert, ich filme uns eigentlich dauernd, kann gar nicht mehr anders“, erzählt Phil. Für Karo sei das nicht immer einfach, bemerkt er. Und Karo ergänzt: „Ja, mir fällt es manchmal schon noch schwer, mein Leben immer vor einer Kamera auszubreiten.“ Besonders schwierig sei es für sie, wenn gewisse Dinge mehrmals gefilmt werden müssen, weil zum Beispiel dann, wenn – „hoppala“ – dummerweise gerade der „Knopf nicht an war“, fügt sie verschmitzt lächelnd bei. „Ja“, gesteht Phil, „das ist schon passiert.“
„Ich bin oft ganz froh, dass ich wenigstens über Video andere Menschen zulabern kann.“
PHIL
Massenhaft Zuschauer
Ansonsten versuchen sie, den Tag so zu filmen, wie er sich ergibt. Meistens stehen sie bereits um 7 Uhr auf, heizen erstmal das Auto ein und kochen sich einen Kaffee. Danach fahren sie zu den Sehenswürdigkeiten oder machen Ausflüge. Karo: „Wir verbringen den Tag ganz normal, eigentlich so, wie man das auch machen würde, wenn man im Urlaub ist.“ Da es im Winter abends schnell dunkel wird, suchen sie jeweils ab 16 Uhr einen Nachtplatz. „Wir reisen wenn möglich nur bei Tageslicht, weil wir in der Dunkelheit ja schöne Spots verpassen könnten“, erklärt Phil. Dann machen sie ein Lagerfeuer und kochen sich was zu essen. Phil schneidet danach jeweils an den Filmen weiter, während Karo ein Buch liest oder die Homepage aktualisiert. Meistens seien sie dann so gegen 20 Uhr mit allem durch und gingen früh zu Bett. Der eigentlich eher unalltägliche Alltag als Reise-Youtuber hat also eine ziemlich alltägliche Rhythmik. Karo findet: „Unser Leben ist nicht so spektakulär, wie es vielleicht auf den ersten Blick aussieht.“ Und Phil ergänzt lachend: „Genau. Zum Beispiel sind wir oft alleine, das ist nicht nur immer einfach. Ich bin oft ganz froh, dass ich wenigstens über Video andere Menschen zulabern kann.“
In Deutschland ist es schon vorgekommen, dass die beiden auf offener Straße erkannt wurden. Ansonsten ist der Trubel um sie hauptsächlich im Internet vorzufinden. Da kann es dann aber passieren, dass mehrere hundert Personen gleichzeitig mit ihnen chatten, wenn sie zu einer Live-Konferenz einladen. Und wenn sie dazu aufrufen, dass die Leute doch Kommentare schreiben sollen, sitzen sie danach ohne weiteres drei Stunden lang vor dem Computer, um diese Beiträge alle zu beantworten. „Ja, diese Masse ist schon etwas spooky“, findet Karo. „Wenn man bedenkt, dass mich so viele, mir total unbekannte Menschen fast alle alltäglichen Details meiner letzten drei Jahre kennen…“ Doch Phil ergänzt: „Bisher haben wir mit unseren Usern nur positive Erfahrungen gemacht.“
YouTube als Experiment
Karo und Phil verstehen sich nicht als herkömmliche Touristen. Einerseits ist für sie die Reise nicht nur Urlaub, sondern auch Arbeit, andererseits sind sie oft auch antizyklisch unterwegs. So bereisten sie den Norden Kanadas im Herbst und Winter und waren da meist ganz allein unterwegs. „Wenn nicht Reisesaison ist, kommt man überall auch viel günstiger durch“, erklärt Phil und rechnet vor, dass ihre Ausgaben sehr gering seien: „Hauptsächlich geben wir Geld für Essen, Benzin und Reparaturen aus.“ Neben Erspartem können die beiden inzwischen auch auf einige Unterstützungseinnahmen aus einer „Diesel-Kasse“ und auf Erlöse vom Verkauf von Produkten in ihrem eigenen Internetshop zählen. Phil meint: „Es ist spannend herauszufinden, was beruflich mit den digitalen Kommunikationsmitteln alles möglich ist.“
Möglich scheint vieles, wenn man auch einige Entbehrungen in Kauf nimmt. So sehen die Zuschauer auf den Filmen nicht, wie einzelne Szenen mehrfach und aufwändig gedreht werden müssen. Wie Karo lange Minuten im Regen steht, weil Phil auf dem Autodach eine Timelapse aufnimmt und sie deswegen nicht im Auto sitzen kann, damit das Auto nicht wackelt. Oder wie sich Phil stundenlang mit den vielen Dateien abmüht. Hingegen können die User sehr wohl mitbekommen, wie Phil im Live-Talk Karo ins Wort fällt und sie das nicht ganz so lustig findet. Dinge, die in jeder anderen Beziehung auch passieren, die aber im Normalfall niemals so viele Menschen mitbekommen. „Unsere Videos sehen so viele Leute. Und sie stehen dann auch für immer im Internet. Das gibt mir manchmal schon zu denken“, sagt sie. Und ergänzt: „Aber irgendwie ist es schon in Ordnung so.“
Der Weg steht im Zentrum
„Ich möchte auf jeden Fall irgendwann wieder in Deutschland leben und in meinem Beruf arbeiten“, stellt Karo klar. Das Reisen sei schön und das Experimentieren mit Youtube sei interessant, aber man stumpfe innerlich auch etwas ab, wenn man immer nur außergewöhnliche Dinge erlebe. Sie sehnt sich nach einem normalen Alltag, danach, wieder mal auf den Familienfeiern mit von der Partie zu sein und nicht mehr alle Geburtstagspartys von Freunden zu verpassen. Phil kann sich auch gut vorstellen, später in Deutschland eine Bastel-Garage einzurichten und weiterhin Videos zu produzieren: „Ich habe in den letzten Jahren gelernt, dass es sich lohnt, an etwas dranzubleiben.“ So beendet er auch jedes Video mit dem bereits legendären Spruch: „Leute, der Weg lohnt sich!“ Jeweils ergänzt mit: „Haut auf den Abonnieren-Button und auf den Like-Knopf.“ Schon viele haben sich davon inspirieren lassen. Und es werden immer mehr.
MARTIN ITEN
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