01 Dez “An glatten Gesichtern rutsche ich ab.”
Der niederbayerische Fotograf Martin Waldbauer möchte in einem Bild ein ganzes Leben darstellen.
Dieses Porträt ist im November 2021 in der Ausgabe Nr. 15 erschienen. Melchior erscheint zweimal im Jahr. Bestell dir hier die aktuelle Melchior Ausgabe zum Kennenlernen.
Ein Modell, tausend Fotos, über die, noch bevor sie auf dem Monitor erscheinen, bereits ein Bearbeitungsprogramm gelaufen ist – und dann die Qual der Wahl: Bei dem Fotografen Martin Waldbauer ist das anders. Er hat nur zwei Schuss, und wie die Fotos tatsächlich aussehen, sieht er erst, wenn er sie mehrfach durch die Entwicklerlösung gezogen hat.
Martin Waldbauer ist 34, fotografiert aber wie vor 100 Jahren. Mit einer Kamera, die seine Körperlänge überragt und in die er beim Einstellen des Bildausschnitts fast hineinzukriechen scheint. Drückt Martin ab, brennt sich das Bild auf eine Platte, die eben nur zwei Seiten hat, für zwei Fotos, schwarz-weiß. Diese entwickelt er in seiner Dunkelkammer, die er sich selbst eingerichtet hat. Das Papier, das er dafür verwendet, hat er im Internet aus aller Welt zusammengesucht: Dieses ist zum Teil in der Tat fast 100 Jahre alt.
„Ich habe nie Interesse an der Fotografie gehabt. Als Jugendlicher habe ich mich für Sport, Aktivitäten und Reisen interessiert. Da hatte ich schon eine dieser analogen Schnappschusskameras aus den 90er Jahren dabei. Ich habe damit einfach so das Leben dokumentiert mit meinen Freunden, mit meiner Familie, ganz banale Schnappschüsse. Entwickelt wurde bei Müller oder dm, den Drogeriemärkten um die Ecke – und es zählten weder Licht noch Komposition, sondern einfach die Erinnerung.“
Fließender Prozess
Dann kamen die Digitalkameras und die sozialen Netzwerke. „Da haben wir, wie die Jugendlichen heute auch, natürlich unsere Fotos reingestellt“, erzählt Martin. „Nicht in diesem Ausmaß, aber das waren die Anfänge.“ Irgendwann dachte sich Martin, dass es doch gut wäre, sein Leben ein wenig bewusster zu dokumentieren.
„Relativ zügig habe ich dann damit begonnen, Familienmitglieder zu fotografieren. Hab die Fotos dann auch schon in schwarz-weiß umgewandelt. Später habe ich die Bilder stärker inszeniert, versucht, jemanden an einen bestimmten Platz zu setzen etc., um dann auch gewollt eine bestimmte Aussage zu erreichen. Das war ein fließender Prozess, ich kann da kein einziges Ereignis nennen, das meine heutige Herangehensweise ausgelöst hat. Ich kann gar nicht erklären, wie das kam.“
Seine erste Serie begleitete den Fotografen über vier Jahre und zeigte seine Großeltern in ihren vier Wänden. In dieser Zeit verstarb sein Großvater, was auch in die Serie mit einfloss: „Sie endete mit einem Bild von ihm auf dem Sterbebett.“ Mit dieser Bildreihe wurde ihm auch durch die Reaktionen von Freunden und Bekannten bewusst: „Das ist schon eher etwas Künstlerisches.“ Ab da, Martin war 24, begann er sich intensiv und akribisch mit Fotografie auseinanderzusetzen.
„Mein klares Ziel war, in einem Jahr zwölf, meinem Empfinden nach sehr gute Bilder zu machen.”
MARTIN WALDBAUER
“Warum ist das so leicht?”
Als er drei Jahre später mit zwei kleineren Ausstellungen in der niederbayerischen Stadt Passau auf große Aufmerksamkeit und Begeisterung stieß, wurde er stutzig. „Warum ist das so leicht?“, fragte er sich. Mit der Digitalkamera abdrücken, das Bild am Computer besser machen und dann von einem Freund auf Aluplatten ziehen lassen. „Da bin ich dann dagestanden und hab mir gedacht, das ist nicht mein Weg, das ist viel zu einfach.“ Er beschloss, die digitale Fotografie beiseitezulegen und analog zu fotografieren. „Ich habe mein gesamtes digitales Equipment verkauft und mir die erste analoge Kleinbildkamera besorgt. 35mm, was jeder kennt.“ Er las sich ein, probierte aus. Lernte Filme entwickeln. Scannte sie – und arbeitete wieder digital. „Das kann es doch nicht sein!“, sagte er sich, „jetzt sitze ich schon wieder am Bildschirm.“ Und baute sich in seinem ehemaligen Kinderzimmer ein Fotolabor.
„Für mich war der Schritt weg von der Digitalfotografie Entschleunigung. Deutlich weniger zu machen. Mein klares Ziel war, in einem Jahr zwölf, meinem Empfinden nach sehr gute Bilder zu machen. Zwölf, eines pro Monat. Das wollte ich radikal verfolgen. Am besten half mir dabei die Großformatkamera. Da hast du einen Planfilm in der Kassette und nur einen Schuss. Du kannst die Kassette umdrehen, da ist nochmal ein Planfilm drin, wenn du ihn bestückst, dann kannst du nochmal eine Aufnahme machen. Das war’s.“
Einen solchen Planfilm in völliger Dunkelheit zu entwickeln, dauert in der Regel vierzig Minuten. Entwickeln kann man immer nur ein Blatt. „Und dann hat man erst mal nur das Negativ. Das geht ja dann noch weiter.“ Da kommt allerhand Zeit zusammen.
„Freude kann im Leben ganz da und doch verhalten still sein.”
MARTIN WALDBAUER
Je seltener, desto kostbarer
Die Filme, um das Negativ zu belichten, gibt es noch regulär zu kaufen. Das spezielle Fotopapier, das Martin für den Druck des Positivs verwendet und das für ihn einen besonderen Charme hat, sucht er sich mühsam im Internet zusammen. Es ist alt, kostbar und rar, der Markt ist leergefegt. „Da wähle ich natürlich mit Bedacht. Gibt es dieses Papier nicht mehr, dann kommt für mich was Neues, aber das weiß ich noch nicht.“
Seinen Modellen begegnet Martin im Alltag. „Das hat viel mit Gefühl und subjektiver Wahrnehmung zu tun: Welches Gesicht ist ausdrucksstark?“ Beim Ansprechen ist Martin hartnäckig; für sein letztes Bild ist er der Person ein ganzes Jahr lang nachgelaufen, solange konnte sie sich nicht dazu entscheiden. Seine Kamera, die 25 Kilo wiegt, flößt Respekt ein, das ist etwas anderes, als mit dem Handy abgelichtet zu werden. Vor ein paar Jahren hätte Martin noch gemeint, dass man das bessere Porträt von einer Person machen kann, die man schon länger kennt. „Inzwischen bin ich vom Gegenteil überzeugt“, sagt er. „Weil im Blick ein gewisses Hinterfragen bleibt.“
„Sitzt der Mensch, den ich fotografieren möchte, vor meiner Kamera, kommt es zu der spannenden Situation: Ich habe einerseits das Ruder in der Hand, weil ich bestimme, wann ich abdrücke. Zum anderen kann ich nur wenig beeinflussen, wie der Mensch schaut und auf dem Foto wirken will. Jeder Mensch strebt nach Wertschätzung und Anerkennung. Mir geht es darum, dass er sich angenommen und glücklich fühlt in dem Moment. Da ist entscheidend, dass man mit dem Menschen kommuniziert. Ich spreche mit der Person. Und oft sage ich irgendwann: Jetzt denk mal an gar nichts – meistens ist das der Moment, in dem ich abdrücke, denn das ist der Moment, in dem etwas passiert in jedem Gesicht.“
„Es gibt nichts vergleichbar Schöneres als das menschliche Gesicht mitsamt seinen sichtbaren Ecken und Kanten.”
MARTIN WALDBAUER
Falten und Furchen
„Alles Schöne ist schief“, steht in seinem Fotolabor mit weißer Kreide auf der schwarzen Wand, ein Zitat von Günter Grass. Es ist das Unrunde, Gekrümmte, was den jungen Fotografen beschäftigt. Die von ihm ausgewählten Modelle sind meist schon in die Jahre gekommen, haben etwas erlebt, das Spuren hinterlässt. „An glatten Gesichtern rutsche ich ab“, sagt Martin.
Zu seinen bekanntesten Werken gehören eine Serie über Holzhauer im Bayerischen Wald und die Porträts von Menschen mit geistiger Behinderung. Letzteren kommt für sein Schaffen eine besondere Bedeutung zu: Hauptberuflich arbeitet Martin als Arbeitspädagoge in einer Einrichtung für Menschen mit Handicap. „Ich würde diese Art der Fotografie nicht so ausführen, hätte ich diesen Job nicht“, sagt er. Die Arbeit mit den Menschen habe ihn geformt und in diese Ecke verschlagen.
„Schönheit definiert sich für mich nicht über irgendwelche festgeschriebenen Normen oder aktuelle Zeitströmungen, denen man auch unmittelbar ausgesetzt ist. Ich frage mich oft: Was ist es, was mich zu bestimmten Menschen hinzieht? Vielleicht ist das nicht Schönheit, sondern die stetige Suche nach dem normal Einzigartigen. Für mich ist Schönheit eine Offenbarung aus vielen Faktoren. Schönheit strahlt und leuchtet. Und das mache ich an Attributen wie Spuren, Makeln, Erlebtem fest. Es gibt nichts vergleichbar Schöneres als das menschliche Gesicht mitsamt seinen sichtbaren Ecken und Kanten.“
„Fotografie ist die einzige Kunstform, für die man jemanden braucht.”
MARTIN WALDBAUER
Mehr als ein Abbild
Martins Porträtbilder sollen niemals ein Abbild der Realität sein. Aber auch nichts Fiktives, das Gegenüber steht ja tatsächlich da. Oft nehme er wahr, dass die Menschen auf dem Papier ganz anders aussehen als in Echt, erzählt er. Er könne es sich selber nicht erklären, aber die Leute wirken auf seinen Bildern älter, statischer, erhabener. „Mir geht es nicht um die Abbildung von Realität oder dem, was mein Modell darstellen will, sondern um etwas dazwischen.“
Genauso wichtig ist es ihm, dass dann, wenn das Bild an der Wand hängt, in dem Raum zwischen dem Bild und seinem Betrachter etwas passiert. „Da muss etwas Unsichtbares, Dynamisches da sein. Dass jemand über den Zweisekunden-Instagramblick hinaus am Foto hängenbleibt.“ Dieser zweite Blick sei für ihn die größte Anerkennung, meint Martin.
„Porträtfotografie ist am Ende zu 50 Prozent Glück. Das hört sich laienhaft an. Aber es ist so: Wenn das Gegenüber keinen Bock hat, dann hilft der beste Fotograf auf der anderen Seite nichts, da wird kein gutes Bild rauskommen. Das ist der Unterschied zwischen der Fotografie und der Malerei. Der Maler braucht nur seinen Kopf und seine Hände, seine Imagination, um irgendetwas zu schaffen. Und der Fotograf braucht ein Gegenüber. Fotografie ist die einzige Kunstform, für die man jemanden braucht.“
ANNA SOPHIA HOFMEISTER, steht auch lieber hinter als vor der Kamera. Am besten erkennt sie sich auf Bildern, die rein zufällig nebenbei entstanden sind.
Hol dir die ganze Printausgabe! Einfach hier bestellen zu einem Preis, den du selbst festlegst. Melchior erscheint zweimal im Jahr mit gut 90 Seiten „Auf der Suche nach dem Schönen, Wahren, Guten“.
Martin Waldbauer, geboren 1986, lebt mit seiner Frau und Tochter in Hauzenberg, Passau. Er zeigt in seiner Fotografie überwiegend den Menschen in seiner Umgebung, seinem Tun, Schaffen und Wirken. Ausstellungen seiner Fotografie sind regelmäßig im Niederbayrischen Raum, inzwischen aber auch in Hochglanzmagazinen wie Photo International, Schwarzweiss usw. zu sehen. „Seine Bilder erzählen die Zeit. Sie macht alles verletzlich, und schön“, hieß es im Bayerischen Rundfunk über Waldbauers Kunst..