Ein Schuh, ein Gänseblümchen und ein Megaphon
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Ein Schuh, ein Gänseblümchen und ein Megaphon

Er ist Rockstar, hat eine schöne Frau und eine kleine Prinzessin und verbringt jede freie Minute auf dem Surfbrett. Was für ein Leben! Doch er ist rastlos. Er kämpft. Er ist noch nicht am Ziel. Noch nicht.

Das Gespräch mit dem Musiker Jon Foreman ist 2015 in der Ausgabe Nr. 3 erschienen. Melchior erscheint zweimal im Jahr. Bestell dir hier die aktuelle Melchior Ausgabe zum Kennenlernen.

Ich bin zu früh. Eine halbe Stunde. Durch den Bühneneingang, dessen Flügeltüren sich wegen der Hitze nach Frischluft ausstrecken, werden von breiten Jungs Kisten hin und her geschoben. Ich frage einen, der im Schatten steht, ob er der Manager sei. „I’m guitars“ schüttelt er den Kopf und lässt mich mit der Frage alleine, was er damit wohl gemeint hat. Ich stehe eine ganze Weile orientierungslos neben den Heinzelmännchen herum. Keiner beachtet mich. Ich bin Teil des Alltags. So wie der scheibengetönte Tourbus vor der Tür. Und die schwitzenden Gurkenstreifen am Cateringbuffet. Oder die bösartigen Tattoos an den Unterarmen des offensichtlichen Clubbesitzers.

Etwas später sitzen wir entspannt unter dem Kirschbaum im Garten – ich hatte den Manager also doch noch gefunden. Und er meinen Gesprächspartner. Unser Fotograf schießt aus allen Rohren, als glaubte er, die Niederlage Napoleons dadurch noch verhindern zu können. Mein Gegenüber hat sich schnell ein T-Shirt mit der Aufschrift „Destroy-Rebuild“ übergezogen – eine Allegorie? Lässig hat er das rechte Bein über das Linke geworfen; seine Skateschuhe erinnern an Shakespeare. Der Korbstuhl umarmt ihn, als ob er wüsste, dass dieser Herr nach seinem Erlebnis in der Grayfish Factory ein paar Streicheleinheiten gebrauchen könnte. Oder nach den Protesten. Oder nach Daisys Notoperation. Oder nach dem, was 2006 vorgefallen war. Aber mal langsam.

Wir schreiben den 22. Oktober 1976. In Österreich erblickt die erste 1000-Schilling-Babenberger-Goldmünze das Tageslicht. In Kalifornien erfreuen sich hingegen der Pastor Mark Foreman und seine Frau Jan an ihrem Erstgeborenen. Und obwohl diese nichts von dem Geldstück 15 Flugstunden entfernt ahnen, strahlen sie mit ihm um die Wette.

Jonathan Mark Foremans Kindheit ist schnell zusammengefasst: Geburt, Freundschaften, Gott, Gitarre, Schule, Surfcontests, College, Switchfoot, Konzerte und schließlich ein Collegeabbruch.

„Ich habe Musik studiert und Professoren dafür bezahlt, mir das beizubringen, was ich eigentlich schon im Studio und auf der Bühne mit meiner Band gelernt habe. Das ergab irgendwie keinen Sinn. Also habe ich das College geschmissen, um mich vom Rock ’n’ Roll unterrichten zu lassen.“

Dass diese Schule schon so manches Opfer gefordert hat, tut Jons Ambitionen keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil. Er liebt es zu lernen und er sucht die Herausforderung. Nach anfänglichen Schwierigkeiten – die Plattenbosse meinen, sie sähen kein Hitpotential in Jons Liedern – stellt sich mit den Jahren auch der Erfolg ein: Switchfoot gewinnt einen Grammy, Hollywood will Jons Songs für die Blockbuster „Nur mit dir“, „Die Chroniken von Narnia: Prinz Kaspian von Narnia“ und „Spider Man 2“. Die TV-Serie „Hawaii-Five-O“ geht mit den Liedern „Out of Control“ und „Needle and Haystack Life“ hausieren und die Videospielindustrie will nicht auf „Oh Gravity“ und auf „Meant to Live“ verzichten. Doch dann kommt das Jahr 2006 und mit ihm zieht eine dunkle Wolke herauf:

„Wir waren sehr erfolgreich und hatten viele Alben und Tickets verkauft. Doch um mich herum wurde es plötzlich dunkel. Ich konnte das Licht nicht mehr sehen. Ich konnte nicht mehr daran glauben, dass Gott gut wäre.“

Jon sieht an mir vorbei. Er überlegt lange, welche Richtung seine Sätze einschlagen sollen. Er scheint an der Lehne des Korbstuhls ein wenig nach Halt zu suchen. Er spricht lieber über die schönen Dinge im Leben. Über Gott, über seine Familie. Die Kunst. Den Ozean. In einiger Entfernung hört man die Bremsen eines Zugs kreischen. Es ist heiß. Die Luft steht.

„Meditieren und Leute, die mich zuvor inspiriert und herausgefordert hatten, konnten mir nicht mehr weiterhelfen. Ich habe viel über mein Leben nachgedacht. Dabei kam ich drauf, dass ich selbst der Grund für die meisten meiner Probleme war. Das war die Lösung: Ich musste die Dinge anders angehen. Ich tat es und konnte endlich wieder das Licht sehen.“

Mit der Veröffentlichung des sechsten Albums („Oh, Gravity“) zu Weihnachten 2006 soll schließlich dieser finstere Abschnitt abgeschlossen und mit Songs wie „American Dream“ oder „4:12“ mit dem Materialismus der Welt abgerechnet werden. Es sei längst wieder an der Zeit, dem Schönen, dem Guten, dem Wahren die volle Aufmerksamkeit zu widmen. Mein Blick streift noch einmal Jons T-Shirt: Nach dem „Destroy“ kommt also das „Rebuild“. Das ist schließlich die Mission eines Künstlers. Zu schaffen. Wenn nötig auch aus den Trümmern. Und wir sind bei der Kunst angekommen. Jon beugt sich entspannt nach vorne, die Ellbogen auf den Knien. Dabei lässt er seine Füße, die er festen Trittes ins Gras stellt, ihrer Arbeit nachgehen; diese sind nämlich Werbeträger für „Macbeth“, eine kleine kalifornische Skateschuhfirma. Sie versuchen mich davon zu überzeugen, dass das Model „London High“ auch meinen Füßen schmeicheln würde. Doch bevor ich zu weit abdrifte, bringt mich Jon wieder unter den Kirschbaum zurück:

„Ich glaube, dass jede menschliche Seele ein künstlerischer Ausdruck des Schöpfers selbst ist. Wenn wir nach seinem Abbild geschaffen sind, sind wir also auch Schöpfer. Der Mensch ist ein künstlerisches Wesen, auch wenn ihn die Angst vor Ablehnung oft dazu verleitet, zu sagen, dass er kein Künstler ist. Doch unter dieser Angst und unter all den Masken, die er sich aufsetzt, sprüht er regelrecht vor künstlerischer Kraft.“

Meine Gedanken eilen mir voraus und ich denke an Hermann Nitsch oder Rammstein oder Elfriede Jelinek. Oder Milo Moiré. Mir kommen Zweifel, ob Jons Theorie haltbar ist, im Angesicht der Künste, die mir genannte Personen an den Kopf werfen: dieses bluttriefende Orgien-Mysterien-Theater, dieses animalische Grunzen von menschenentwürdigenden Parolen, diese ekelerregende Tabulosigkeit wenn über Sex gesprochen wird. Das skandalöse Eierlegen, um die Geburt eines Kunstwerks zu persiflieren. Doch darauf sagt Jon:

„Wir sind verdreht und verbogen wie unsere Welt. Aber auch bei uns lässt sich die Schönheit finden. Selbst die dunkelsten Darstellungen von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung sind von der Energie getrieben, etwas zu erschaffen, etwas zu machen. Und die ist uns von unserem Schöpfer gegeben.“

“Wir waren sehr erfolgreich und hatten viele Alben und Tickets verkauft. Doch um mich herum wurde es plötzlich dunkel.”

Jon Foreman

Genau diese Energie ist es auch, die den Musiker aus dem sonnigen San Diego in Kalifornien antreibt: Switchfoot – der Grund, warum er heute in Wien ist. Dann noch Fiction Family. Oder sein Solo-Projekt, mit dem er neulich auch ins Guinness Buch der Rekorde kommen will (mit einem 25-Stunden-Konzert). Er schreibt. Gedichte. Blogeinträge für die Huffington Post. Seine Lieder natürlich. Er zeichnet. Er ist der Initiator des jährlichen Charity-Surf-Contests „Bro-Am“ in seiner Heimatstadt und laut seinem Bandkollegen Chad ohnedies der großzügigste Mensch auf dem Planeten. Und er surft. Warum es zum Profisurfer nicht gereicht hat? Die Konkurrenz wäre zu hart. Das große Geld teilten sich nur ein paar Wenige. Und die Vorstellung, dass er eines Tages zu denen gehören würde, war nie über den Status eines Traumes hinausgewachsen. Also wollte er lieber weiter Musik machen und daneben jede freie Minute im Ozean verbringen:

„Ein paar Minuten im Ozean ‚hits the reset button’.“

Während ich noch darüber nachdenke, wie ich das übersetzen werde, strahlt Jon übers ganze Gesicht. Genau so, wie wenn ich ihm von unberührten Tiefschneehängen in den Alpen erzählen würde. Ich weiß also woher dieses Strahlen rührt. Es ist mir auch klar, warum die Band 2013 beschließen, ihre Geschichte mit dem Titel „Fading West“ auf Film zu bannen: Surfen, Musik, Leben. Von Australien über Neuseeland und Afrika nach Bali und schließlich an den Hausstrand in San Diego. Der Plan ist gut. Doch die Postkartenidylle eines Lebens als surfender Rock ’n’ Roll Star wird schon in Australien durch einen erschütternden Anruf zerschlagen: Jons Baby Daisy muss ins Spital gebracht und notoperiert werden. Ich frage ihn, wieso es ihm wichtig war, dass gerade in diesen schwierigen Stunden die Kameras nicht ausgeschaltet wurden und warum er auch diesem sehr persönlichen und emotionalen Kapitel in „Fading West“ seinen Platz einräumen wollte. Wieso sollten ihn seine Fans weinen sehen?

„Es war sehr persönlich und wir haben lange und intensiv darüber nachgedacht. Wir haben schließlich gemerkt, dass diese Episode ein wichtiger – wenn nicht der wichtigste –Teil der Geschichte war, die wir in diesem Jahr erlebt haben. Für mich war dieser Moment einer der schwierigsten in meinem Leben. Es war also klar, dass wir das zeigen mussten, wenn wir einen ehrlichen Film machen wollten. Ansonsten wäre der Streifen vielleicht zu einem Musikvideo a la ‚Hey, super! Surfen, Rock ’n’ Roll und um die Welt jetten!’ verkommen. Wie ehrlich ist denn das?“

Wohl nicht sehr. Denn das Leben verläuft eben nicht nach dem Strickmuster der nach saurem Apfel riechenden Großmutter, deren Schals jedes Jahr fein säuberlich in altmodisches Geschenkpapier eingewickelt unter dem Christbaum liegen. Das Leben ist der ständigen Wechselwirkung zwischen Chaos und Kontrolle unterworfen:

„Weißt du, es ist eine Sache, dich selbst in eine Herausforderung zu stürzen, wie beim Surfen zum Beispiel. Aber wenn du zusehen musst, wie deine Tochter durch etwas Schwieriges durch muss, das ist die absolute Hilflosigkeit. Du hast nichts unter Kontrolle.“

Da hast du nur zwei Möglichkeiten: zu glauben oder zu verzweifeln.

„Viele Menschen sagen, dass Zweifel und Verzweifeln logisch, Hoffnung aber unlogisch seien. Aber keines von ihnen ist logisch oder unlogisch. Verzweiflung ist, wenn ich sage, dass nichts Gutes geschehen wird. Wir wissen, dass das nicht stimmt. Diese kleine Blume [Jon pflückt ein Gänseblümchen] sprießt aus dem Boden und ist ein unglaubliches Geschenk. Ich habe es nicht verdient, diese Schönheit jetzt anzuschauen. Ich habe diesen Atemzug jetzt nicht verdient. Es ist weder logisch noch unlogisch zu sagen, dass nichts Schönes passieren wird. Das Schöne wird genauso passieren wie das Tragische. Keines der beiden ist wissenschaftlich gesehen wahrscheinlicher. Die Frage ist, was du tust, wenn du etwas Tragisches erlebst. Wie begegnest du dem Schönen und dem Tragischen? Es kommt letztlich darauf an, was du aus dem Geschenk deines Atems jeden Morgen machst.“

Auch Jon stellt sich diese Frage täglich. Und er kämpft. Und er zweifelt:

„Ich verstehe, warum es Zweifel gibt. Ich zweifle genauso. Dort, wo es Hoffnung gibt, gibt es auch Zweifel. Alles spielt sich zwischen Chaos und Kontrolle ab. Es macht Angst, im Chaos zu leben. Und hier stehen wir: Ich habe den Tag nicht unter Kontrolle, an dem ich sterben werde. Er wird über mich hereinbrechen.“

Doch letztlich hat er sich dafür entschieden, Gott die Kontrolle über sein persönliches Chaos zu überlassen. So wie er es auch bei der Operation seiner Tochter Daisy getan hat. Das Gänseblümchen, das er zwischen seinen Fingern hin und her rollt, erinnert ihn an sie. Es erinnert ihn an seine Frau. An sein Zuhause. Seine größte Inspiration. An jene zwei Menschen, die sich 10.000 Kilometer weiter westlich wohl gerade im Schlaf wiegen. Ich frage ihn, wie es ihm eigentlich dabei geht, dass er so weit von zu Hause weg ist. Dass er seine Frau und Tochter immer wieder für längere Zeit nicht sehen kann. Wie er damit umgeht.

„Die räumliche Distanz zwischen mir und meiner Familie ist eine echte Herausforderung. Aber es ist nicht die einzige Schwierigkeit, die es in Beziehungen gibt. Ich habe zu Hause gelebt und größere Herausforderungen als diese erlebt. Doch es hat auch etwas Gutes: Man kann zum Beispiel gut sehen wie viel einem jemand wert ist, wenn man nicht in seiner Nähe ist. Und man kann an der Herausforderung wachsen. Ein Baum, der kein Wasser hat, muss sich auch längere Wurzeln zulegen; er muss tiefer graben. Meine Frau und ich haben Jahre damit verbracht, tiefer zu graben. Wir haben vieles falsch gemacht, doch hoffentlich auch aus unseren Fehlern gelernt. Ich habe aber leider kein Geheimrezept. Ich glaube einfach, dass es die Liebe gibt. Und, dass diese Liebe jeden Kampf wert ist. Darüber singe ich auch.“

Jon denkt sicherlich auch gerade an „Love Alone is Worth the Fight“, die Single aus dem Album „Fading West“. Oder „The Sound“ aus dem Album „Hello Hurricane“, wo Jon den Satz „Love is the Final Fight“ des Pastors, Menschenrechtsaktivisten, Predigers und Philosophen John M. Perkins zitiert. Oder „The War Inside“ aus „Vice Verses“, wo es heißt: „Every fight comes from the fight within“. Das Kämpfen zieht ihn wohl magisch an. Und er bestätigt meinen Schluss:

„Ich finde, kämpfen hat was Schönes an sich. Und eine Beziehung ist ein Kampf. Es ist ein Kampf, wenn man die Welt schöner machen will. Es ist ein Kampf, wenn man jemanden kennen lernen will. Es ist ein Kampf, mit ihm Freude zu erleben. Es ist der Kampf zweier individueller Seelen, die sich ständig weiterentwickeln, deren Streben und Leidenschaften sich ständig verändern, zusammen zu halten und Dinge zu finden, die sie verbinden und durch die sie sich gegenseitig stützen können.“

Doch dieser Kampf findet nicht nur zwischen zwei Seelen statt, die sich entschlossen haben, ihr Leben miteinander zu teilen. Manchmal wird er auch direkt auf der Straße ausgetragen. Mit Menschen, denen man zum ersten und wohl auch zum letzten Mal in seinem Leben begegnet. Wie eines Abends in Oklahoma beispielsweise, als Jon vor dem Konzert plötzlich laute Schreie von draußen hört. Im Glauben, dass es sich um einen Notfall handeln würde, läuft er vor die Konzerthalle. Was er dort sieht, bricht über ihn herein wie ein Hurrikan: Männer, Frauen, Kinder, Transparente. Etwa hundert Menschen. Ein Mann mit einem Megaphon. Er skandiert in Richtung Fans, die auf den Einlass warten: „Switchfoot wird euch geradewegs in die Hölle führen!“

„Wenn Menschen gegen dich protestieren, dann ist das ziemlich entmutigend. Man weiß echt nicht was man tun soll. Der Reflex sagt: ‚Zurückschlagen! Ein Megaphon kaufen und auch brüllen!’ Doch das ist nicht die Lösung. Ja, ich bin ziemlich anderer Meinung als diese Menschen, aber zu mir passt kein Megaphon. Ich möchte diese Feindseligkeit nicht weiter ankurbeln. Ich möchte ein Gespräch. Ich möchte ein besseres Lied – für sie und für mich.“

Als er all das auf sich wirken lässt, versteht er, dass diese Typen auch nur Menschen sind. Genauso unvorhersehbar und verblüffend wie er selbst. Der Mann mit dem Megaphon könnte sein Cousin sein. Oder er selbst. Er fragt sich, ob er nicht genauso handeln würde, wenn er in den Schuhen dieses Mannes stecken würde.

„Mitgefühl lässt dich erkennen, was du mit dem Rest der Menschheit gemeinsam hast. Von meinem Standpunkt aus hat es den Anschein, als hätte der Mann mit dem Megaphon ernstzunehmende Probleme. Sollte ich dann also nicht barmherziger zu ihm sein?“

Und Jon fasst an jenem Abend einen Entschluss: „Ich bin nicht gegen diesen Menschen. Ich bin für ihn! Ich möchte barmherziger sein.“ Wenn man auf diese Weise in eine Schlacht zieht, kann man nur als Sieger hervorgehen. Doch die Voraussetzung für den Sieg ist, dass man in die Schlacht zieht. Dass man das Board schnappt und sich in das eisige Wasser stürzt, das sich vor einem meterhoch aufbäumt und dessen Monsterwellen nicht der Grund sind, warum sich der Mann neben einem bekreuzigt. Jetzt kann Jon darüber lachen, während er mir die Geschichte erzählt, in der er mit Dougal Paterson und dem legendären Shaun Timoney, dem Big-Wave-Guru und Baum von einem Mann, die Crayfish Factory in Südafrika zu surfen versuchte: Der eisige Winterregen peitscht die Gischt auf, das Wasser hat acht Grad. Ein paar von Dougals’ Freunden ziehen kopfschüttelnd wieder ab; die Factory sei unbezwingbar unter diesen Voraussetzungen. Ganz zu schweigen von den Haien, die der Grund für Dougals’ Kreuzzeichen zuvor waren. Und ja, es war verrückt, da raus zu paddeln. Und es hat keinen Spaß gemacht, von den drei Wellen gepackt und minutenlang zu Boden gedrückt zu werden. Es war nicht prickelnd, im Schlund der Hölle zu versinken und von der plötzlichen Stille und Dunkelheit im Schoß des Ozeans umspült mit dem Leben abschließen zu müssen. Es war nicht berauschend halbertrunken von den Wassermassen an Land gespien zu werden. Es war bei Gott nicht angenehm, Dougal nur noch die Hälfte seines heißgeliebten Longboards zurückgeben zu können. Aber es war wichtig.

„Stell dich deiner Ängste oder bleib am Strand, du hast die Wahl! Doch bedenke: Alles, wofür es wert ist zu kämpfen, ist mit Gefahren verbunden. Verliebe dich, kämpfe für etwas, an das du glaubst, paddle raus an einem Tag, der dir Angst macht – das Risiko ist immer da. Aber das wahrscheinlich größere Risiko ist, ein seichtes Leben zu führen und vor seinen Ängsten und Träumen davon zu laufen.“

Deswegen ist Jon in seinem Leben immer das Risiko eingegangen und er wird es weiterhin tun. Er will kein seichtes Leben führen. Er will kämpfen. Er will schließlich irgendwann auch an seinem Ziel ankommen. Bei Gott.

„Ich glaube an die Musik, die wir machen. Ich liebe das Surfen, denn ich habe den Eindruck, dass es Teile von mir ans Tageslicht bringt, die sonst nicht sichtbar wären. Meine Familie ist meine Identität. Ich bin meine Familie. Aber der Glaube hilft mir, mit all dem umzugehen. Er zeigt mir wie ich mit Gott kommunizieren und wie ich den Armen in meiner Stadt begegnen soll. Er zeigt mir was ich für die Obdachlosen tun kann. Wie ich die Menschen lieben kann, die mehr haben als ich. Und wie ich jene lieben kann, die weniger haben. Das sind die vier wichtigsten Dinge in meinem Leben.“

Schöner hätte ich es nicht zusammenfassen können, und wenig später steht Jon mit seinen Freunden auf der Bühne. Destroy-Rebuild, Macbeth und das Strahlen sind auch da. Megaphon sehe ich keines. Er singt über sein Leben und lebt wovon er spricht. Der Mann hinter dem Mikrophon ist auf der Suche nach der Antwort auf sein persönliches Chaos und nach einer Heimat im Jenseits. Er will kein seichtes Leben führen und gerade deswegen verfolgt er seine Träume und stellt sich seiner Ängste. Er liebt das Leben und die Tatsache, dass er heute hier sein darf. All das sieht man. Und hört man. Und spürt man.

 DAVID SCHWARZBAUER, 38, rezensiert schon fast so lange Musik wie Switchfoot Alben veröffentlicht. Er unterrichtet Englisch & Deutsch.

 

Hol dir die ganze Printausgabe! Einfach hier bestellen mit Angabe der Ausgaben-Nummer zu einem Preis, den du selbst festlegst. Melchior erscheint zweimal im Jahr mit gut 80 Seiten „Auf der Suche nach dem Schönen, Wahren, Guten“.

Jon Foreman
„Both faith and doubt are equally logical choices in the face of tragedy. For me that is the choice: to believe rather than doubt.“

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“I sing these songs as a soul that has not arrived yet.”