04 Nov. Glückspilz im Unglück
Ein altes, ehrwürdiges Bauernhaus im Emmental. Davor ein quadratisch angelegter Garten mit Gemüse und Blumen. Bäri, der Hofhund, trottet über den Platz. Unter dem imposanten Vordach erscheint ein junger, hagerer Mann und lädt in fast perfektem Schweizerdeutsch zum Tee. Sein Leben hätte bis vor wenigen Jahren noch ganz anders verlaufen sollen.
Dieser Artikel ist im Oktober 2019 in der Ausgabe Nr. 11 erschienen. Melchior erscheint zweimal im Jahr. Bestell dir hier die aktuelle Melchior Ausgabe zum Kennenlernen.
“Ich saß im Bus zur Uni, als wir auf einmal beschossen wurden. Vor mir brachen Menschen zusammen. Tot.“ – Wenn Badreddin erzählt, was ihm widerfahren ist, wird der sonst so fröhliche Mensch ganz ernst. Er wählt wenige Worte, möchte die Bilder in seinem Kopf weghaben. Die extreme Spannung, die er damals auszuhalten hatte, komme ihm vor wie ein rabenschwarzer Traum.
Syrien 2014, es herrscht Krieg. Badreddin Ahmed Wais, ein damals 21-jähriger Sportstudent, versucht in Damaskus einigermaßen normal durch den Alltag zu kommen. Er fährt Radrennen im Juniorennationalteam und trainiert mehrmals pro Woche unter der Obhut des syrischen Verbandes. Dank seines Studiums kann er jeweils die Einberufung zum Militärdienst hinauszögern. Seine Eltern sind bereits 2013 aus dem Land in Richtung Türkei geflohen. Ihnen gehörten fünf Stoffläden im alten Zentrum von Aleppo, just dort, wo der Krieg besonders heftig wütet. Es liegt alles in Schutt und Asche. Nur Badreddin und sein älterer Bruder bleiben in der vermeintlich sichereren Stadt Damaskus. Badreddin träumt von Olympia und der Weltmeisterschaft. Aber diese Gedanken rücken angesichts der bedrohlichen Lage immer weiter in den Hintergrund. Eines Tages verschwindet sein Trainer. Wie vom Erdboden verschluckt ist auch er aus dem Land geflohen.
Einziger Ausweg: Flucht!
„All diese Ereignisse zeigten mir immer deutlicher auf, dass es auch für mich keinen Weg mehr gab, in Syrien zu leben, ohne dass ich ebenfalls ins Militär und somit in den Krieg eingezogen werde“, sagt Badreddin. Er schmiedet heimlich Pläne, überlegt sich, wie er das Land verlassen könnte. Seinen syrischen Pass hatte man beim Radsportverband eingeschlossen, nur mit einer List kann er ihn wiederbekommen. „Ich sagte ihnen, dass ich meine Familie in der Türkei besuchen müsse, weil es meinem Vater gesundheitlich schlecht gehe“, erinnert sich Badreddin. Mit dem Bus, einem Schiff und dem Versprechen, dass er sein Fahrrad mitnehmen und in der Türkei für das anstehende Rennen trainieren würde, reist er schließlich über Beirut nach Mersin. „Ich ließ das Fahrrad in Syrien und nahm nur einen kleinen Rucksack mit. Ich wusste, dass ich für immer gehe.“ Seine Kameraden weiht er nicht in die Pläne ein, er will sie nicht durch Mitwissen in Schwierigkeiten bringen. „Drei meiner Freunde, die ich zurücklassen musste, sind später im Krieg ums Leben gekommen“, fügt er traurig an.
Nach einigen Wochen in der Türkei wird es Badreddin immer klarer, dass er auch hier keine Zukunft hat. Getarnt als Tourist reist er mit einer Fähre voller Urlauber nach Griechenland. „Äußerlich sah ich aus wie ein Tourist, innerlich bin ich fast gestorben“, erinnert er sich. „Es war eine Reise ohne Ziel. Ich wusste nur, dass mich die Polizei nicht erwischen darf.“ In Athen versucht sich Badreddin durchzuschlagen, kann aber auch in Griechenland keine Zukunftsperspektive erkennen. Übers Internet hört er zum ersten Mal etwas von einem alten Bekannten aus der Schweiz. „Er schrieb mir auf Facebook, dass ich nach Genf kommen solle, mit gefälschtem Pass und einem Rückflugticket, damit ich kein Aufsehen errege.“ Für viel Geld kann sich Badreddin auf illegalem Weg einen kasachischen Pass besorgen. „Ich war selber erstaunt, dass dies klappte.“
Angekommen in der Schweiz reist Badreddin vom Flughafen auf abenteuerliche Weise nach Lausanne zu seinem Bekannten und reicht schließlich im Kanton Schwyz einen Asylantrag ein. „Dann wurde ich ins Übergangszentrum in einem kleinen Dorf in den Bergen, in Morschach, eingeteilt.“ Schnell wird ihm klar, dass er möglichst rasch die deutsche Sprache erlernen muss. Er besucht Kurse und kann sich schließlich gar ein altes Fahrrad besorgen. „Endlich konnte ich wieder Radfahren“, freut er sich.
Ein neues Leben
„Ich bin ein Glückspilz!“ Badreddin nimmt einen Schluck vom Kräutertee und ergänzt: „Ich hatte in meinem Leben oft viel Glück, auch hier in der Schweiz.“ So zum Beispiel, als er an einem kalten, trostlosen Januartag mit dem Rad eine Ausfahrt machte. Bei einem Kreisel sprach ihn ein älterer Schweizer Ultraradfahrer an, weil diesem aufgefallen war, wie Badreddin ohne „adäquates Tenü“ unterwegs war. Der pensionierte Reiseorganisator Louis hatte früher selber mehrfach Reisen nach Syrien und Aleppo unternommen und so entstand völlig zufällig eine Freundschaft, die bis heute andauert. Badreddin erzählt: „Louis brachte mir am anderen Tag warme Kleidung mit und zeigte mir in der Umgebung viele Trainingsstrecken. Auch half er mir später, dass ich für Syrien 2017 an der Radweltmeisterschaft in den norwegischen Bergen teilnehmen konnte.“
Auch auf dieser Reise war ihm das Glück hold. „Ich habe meine Freundin im Himmel kennengelernt“, lacht Badreddin. Im Flieger nach Norwegen setzte sich eine junge, blonde Frau neben ihn. Es war Marlen Reusser, die Landesmeisterin im Zeitfahren. Auch sie war auf dem Weg zur WM. „Wir tauschten unsere Nummern aus und so ergab sich das eine und andere“, lächelt Badreddin. Er und Marlen sind nun bereits seit über einem Jahr ein Paar. Heute lebt er auf dem Berner Bauernhof ihrer Familie und trainiert oft zusammen mit ihr auf den weiten Schweizer Straßen. „Ich kenne inzwischen die Schweiz wohl besser als viele Einheimische“, grinst er und fügt an: „Marlen und ihre Familie bedeuten mir sehr viel.“ Im Sommer 2019 wurde Marlen in Minsk Europameisterin bei den Profis, was ihn sehr stolz macht.
Radfahren als Medizin
Badreddin versucht, nicht zu viel an Syrien zu denken. Seine Mutter sei inzwischen schon mal zurück nach Aleppo gereist, hätte aber einsehen müssen, dass es dort für die Familie keine Zukunft gibt. Wenn sein Vater nicht schon tot wäre, sagte sie, „dann wäre er wohl jetzt aus Kummer gestorben, wenn er seine Heimatstadt so gesehen hätte.“ Badreddin ist froh, dass er diese verstörenden Bilder nicht selber sah und er sich in der Schweiz wieder seiner großen Passion, dem Radfahren, zuwenden kann. „Für mich ist Radfahren wie eine Medizin, die mir hilft, dies alles innerlich zu verarbeiten.“
Heute trainiert er viel und versucht Unterschlupf in einem Team der Continental-Klasse zu finden. Das sei aber sehr schwierig, weil es hierzulande noch viele andere gute Fahrer gäbe. Im Amateur-Landesranking des Jahres 2018 schaffte er es immerhin auf den 8. Schlussrang. Neben dem Rennenfahren arbeitet er in Bern als Teilzeit-Verkäufer in einem Geschäft für Radsport-Utensilien. Und er trainiert viel für seine nächsten großen Ziele: die kommenden Straßenweltmeisterschaften und die olympischen Spiele in Peking. „Ich würde sehr gerne an diesen Rennen für Syrien an den Start gehen“, spricht er hoffnungsvoll. Es wäre die Erfüllung eines alten Kindertraumes. Denn schon in Damaskus hat er intensiv auf dieses Ziel hingearbeitet. „Wäre der Krieg nicht ausgebrochen, hätte ich es wohl früher geschafft. Nun verlor ich mindestens drei Jahre meiner Karriere“, sagt er. Und fügt nach einer kurzen Pause an: „Aber andere verloren ihr Leben.“
Die Sonne neigt sich über dem Emmentaler Bauernhaus. Badreddin muss in die Stadt, er hat heute noch Dienst im Laden. Auf die letzte Frage, was denn eigentlich seine weiteren Kinderträume gewesen seien, denkt er nur kurz nach: „Einmal ein Radrennfahrer wie Alberto Contador oder Fabian Cancellara zu werden.“ Immerhin, letzterer, den hier heimischen Rad-Superstar, traf er kürzlich zufällig in Bern auf der Straße. „Eben, ich bin ein Glückspilz!“ Badreddin lächelt und schwingt sich auf sein Rennrad.
MARTIN ITEN, 33, träumte in jungen Jahren ebenfalls von der grossen Rennfahrerkarriere. Heute verweigert er sich deswegen in Erinnerung an Klettermeister Marco Pantani dem E-Bike-Trend.
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