01 Mai Die Schmiedin
Das Eisen ist nach Möglichkeit auch ein Hammer. Dies umzusetzen, erfordert Arbeit.
Dieses Porträt ist im April 2023 in der Ausgabe Nr. 18 erschienen. Melchior erscheint zweimal im Jahr. Bestell dir hier die aktuelle Melchior Ausgabe zum Kennenlernen.
Wenn ein Handwerker aus Material etwas anderes gestaltet und das Potentielle übergeht in eine spezifische Qualität, galt dies in der Antike als asketischer Akt. Eveline Kesseli verfügt über die Vorstellungskraft zu sehen, wie das warme Eisen geformt werden könnte und sie hat jahrelange Übung darin, das Potentielle auch Wirklichkeit werden zu lassen. In Krummenau an der Thur im Toggenburg steht sie täglich in der eigenen Schmiede, deren Betrieb ab 1910 dokumentiert ist, deren Ursprünge aber vermutlich mindestens bis 1880 zurückreichen.
„Alles“, meint Eveline Kesseli ohne nachzudenken auf die Frage, was ihr die Arbeit bedeute. Es muss vor der Lehre gewesen sein, als sie jeweils noch auf die Uhr geschaut und den Feierabend erwartet hatte. Das Wort „endlich“ gibt es bei der Schmiedin nicht, es sei denn kurz vor Mittag, aber dann nur wegen des Hungers. Etwas Gegenständliches herzustellen, das man anfassen kann, das sichtbar ist und kaum digitale Wölkli erfordere, bereite ihr unglaubliche Freude. Und wenn in ihrer Schmiede etwas produziert worden ist, „bestehen gute Chancen, dass es auch in drei Generationen noch Bestand haben wird.“
In ihrer Jugend verfügte Eveline Kesseli über extrem viel Energie. Um ihre Kraft zu kanalisieren, wusste sie schon früh, dass ein Handwerk das Richtige für sie sei. „Meine Energie hätte sonst auch in eine ganz andere Richtung umschlagen können.“ Ursprünglich wollte sie Steinmetz werden, fand jedoch keine Lehrstelle. Im Gespräch mit einem Schmied, der seinen Beruf sehr mochte, bekam das warme Eisen einen großen Reiz. Beim Schnuppern brauchte sie keine halbe Stunde und der Fall war klar: „Das will ich!“
Wanderleben
Nach der Lehre ging Eveline Kesseli auf die so genannte Walz. Für über drei Jahre und einen Tag war sie mit ihren sieben Sachen unterwegs, um neue Stilrichtungen und andere Arbeitsfelder ihres Berufs kennenzulernen. „Zu Beginn war das eine unbändige Freiheit“, erzählt Eveline. Lachend fügt sie hinzu, dass sie nicht nur im Umgang mit dem Eisen, sondern auch in der gelebten Freiheit gewachsen sei. „Die völlige Unverplantheit war etwas ganz Besonderes. Im Gegensatz zu einem Pilgerweg, bei dem du dein Ziel kennst, lässt du dich bei der Wanderschaft bewusst vom Weg abbringen. Das schafft enorm interessante Begegnungen.“ Ein Handy haben die Gesellen keins dabei. Es fehle auch nicht im Geringsten. Klar wäre es abends manchmal schön gewesen, in ein Zimmer zu gehen und die Türe hinter sich zu schließen, oder einen Pyjama, einen Jogginganzug oder ein zusätzliches Paar Schuhe dabei zu haben. Aber das leichte Gepäck gehöre dazu. Die Wanderjahre haben Eveline geprägt, auch wenn sie jetzt in der eigenen Schmiede, verheiratet und mit Kind sesshaft geworden ist. Ob es von der Erfahrung des Unterwegsseins herrührt oder vom täglichen Kontakt mit dem formbaren Eisen: Man spürt, dass die Schmiedin auch im Bleiben noch eine Frau des Aufbruchs ist.
Der Töpfer und der Bäcker seien wohl näher beim Schmied als der Steinmetz, meint Eveline. Beim Bildhauer komme man durch Entfernen von Material zu seinem Ergebnis, in der Schmiede durch Umformen. Eveline ist fasziniert vom Eisen. Dieses starre Material ließe sich in alle Richtungen bearbeiten, ja es könnten sogar Eigenschaften hinzugefügt werden. So ist warmer Stahl, wenn man ihn kalt abschreckt, härter als zuvor. Das nehme man sich für Werkzeuge zu Hilfe. Es gibt ein Zeitfenster für die Bearbeitung, das man kennen müsse. Einen normalen Baustahl beispielsweise wärmt man ungefähr auf 1150 Grad. Das ist der Zeitpunkt zum Schmieden. Man müsse wissen, was man vorhat, um in möglichst wenigen Schritten ans Ziel zu kommen. Das Material kann auch zu heiß werden, dann verschmilzt es nicht, sondern verbrennt. Dieser Punkt sei unverrückbar. „Dann gibt es Fünkli wie bei den Wunderkerzen. Das Material wird spröde und lässt sich nicht mehr flicken.“ Als Kursleiterin stellt sie immer wieder fest, dass Leute befürchten, es werde ihnen die Kraft am Amboss fehlen. Manchmal zerstörten sie das Eisen jedoch nicht am Amboss, sondern im Feuer. Weil die Sorgfalt im Schauen fehle. Ohne Beobachtungsgabe helfe auch viel Kraft nicht.
Ein gestaltender Schmied zeichne sich durch ein exaktes Vorstellungsvermögen aus. Diese Fähigkeit sei nicht gratis. Manchen sei sie mitgegeben, andere müssten sie sich hart erarbeiten. „Ich gehöre zur zweiten Gruppe.“ Eveline lacht schallend. Über die Jahre setzte sie sich intensiv mit ihrem Vorstellungsvermögen auseinander und trainierte es, indem sie zeichnete und Pläne las.
Schönheit
Auch wenn es die übliche Nebenerscheinung sei, dass das Gesicht als Schmiedin schon nach fünf Minuten Arbeit in der Werkstatt schmutzig und die Hände des Öfteren rissig sind, sei es dennoch ein Privileg, etwas formen zu dürfen und ein Produkt herzustellen. Eveline Kesseli gestaltet oder restauriert unter denkmalpflegerischen Anforderungen auch Geländer und Tore. Doch eine Lieblingsaufgabe sind individuelle und zeitgenössische Grabmäler. Denn das sind Skulpturen, die eine wichtige Funktion haben. Angehörige, die solche Aufträge erteilten, lerne sie auf eine besondere Art und Weise kennen. Für manche sei der Besuch in der Schmiede und die Beschäftigung mit der Gestaltung gar ein Stück Trauerverarbeitung.
Eveline stellt sich ans Feuer und achtet sorgfältig auf die Glühfarbe. Geschickt und sicher bearbeitet sie die warme Eisenstange und übergibt mir einen Anhänger. Nun kühl, liegt das herzförmige Blatt schön und schwer in meiner Tasche. So schnell wird mir der Schlüssel nicht verloren gehen. Und beim Türen Öffnen denke ich nun des Öfteren darüber nach, auf welche Weise ich mich formen lassen möchte.
MAGDALENA HEGGLIN
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