Der strahlende Schranz
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Der strahlende Schranz

Sobald es das Wetter zulässt, zieht es Simon Schranz ins alpine Hochgebirge. Dort sucht er nach schönen Kristallen und wertvollen Mineralien, um sie nach Millionen von Jahren erstmals ans Tageslicht zu bringen. Eine Geschichte vom Glück des Findens und der Unverkäuflichkeit des Schönen. 

Dieses Porträt ist im April 2023 in der Ausgabe Nr. 18 erschienen. Melchior erscheint zweimal im Jahr. Bestell dir hier die aktuelle Melchior Ausgabe zum Kennenlernen.

Ein warmer Frühlingstag im Berner Oberland, die letzten Schneeflächen schmelzen auf der Sonnenseite des Engstligentals, und die frühen Blumen sprießen am Wegesrand. Dank der warmen Temperaturen sind auch bereits die Bienen ausgeflogen und erkunden die noch braunen Wiesen. Das große Lohner Bergmassiv auf der anderen Talseite thront in strahlendem Weiß über Adelboden, dem wegen seines legendären Skirennens am Chuenisbärgli bekannten Ferienort. Im Dorf sind denn auch Menschen in Skianzügen unterwegs, was darauf hinweist, dass in den höheren Lagen noch der Winter herrscht. Jetzt ist jene Zeit gekommen, in der es Simon Schranz langsam wieder in den Fingern zwickt. Bald wird es ihn wieder nach „oben“ ziehen, dorthin, wo in den Granitfelsen seine Schätze schlummern.

Kristalle erahnen 

Simon Schranz sitzt auf der Holzbank vor dem alten Bauernhaus, in dem er wohnt. Wenn er über die Passion Strahlern spricht, leuchten seine himmelblauen Augen so wie die Kristalle im hellen Tageslicht. „Ich bin gespannt, welche Steine ich dieses Jahr finden werde“, murmelt er lächelnd in den wilden Bart, der die Urwüchsigkeit seiner Person kennzeichnet. Schranz ist ein Bergler durch und durch, 35 Jahre alt und Zimmermann. Im Winter arbeitet er jeweils zwei Monate lang im Infrastrukturteam der Weltcup-Skirennen mit, verantwortet dort den Tribünen- und Zielraumbau. Ansonsten ist er in seinem erlernten Beruf aktiv und zimmert die in der Region typischen Holzhäuser. Doch in allen freien Stunden zieht es ihn raus in die Natur, je höher, umso besser.

Am Galenstock, dem vierthöchsten Berg der Urner Alpen, hat Schranz auf rund 3000 Metern über Meer ein eigenes Biwak eingerichtet. Er nennt es liebevoll „miis Chalet“. Im Winter gut verstaut in einem blauen Plastik-Obstfass, richtet er sein Heim im Sommer jeweils spartanisch aber durchaus gemütlich ein und plant von dort aus seine Strahlerabenteuer. Auf der Walliser Seite, da wo sich der eindrückliche Rhonegletscher Jahr für Jahr weiter zurückzieht und somit „unverstrahltes“ Gestein freigibt, ist das Revier von Schranz, der Ort seines Glücks. Da kriecht er in Felsspalten, arbeitet sich mit dem Strahlstock, mit Hammer und Pickel durch Gestein hindurch, stets auf der Suche nach neuen Kluften. „Eine Kluft ist der Hohlraum im Gestein, in der sich in Millionen von Jahren Mineralien kristallisiert haben“, erklärt der Experte. „Solche Hohlräume zu erahnen und sie dann zu finden, das ist die große Faszination und gleichzeitig die Schwierigkeit des Strahlerns.“ Schranz beherrscht die Disziplin und hat schon einzigartige Stücke aus dem Inneren des Berges herausgearbeitet.

Suchen und Finden 

Nomen est omen? Das Wort Schranz ist nicht nur ein im Berner Oberland alteingesessener Familienname, es bedeutet in der Schweizer Mundart auch so viel wie „Riss“. Zum Beispiel wird ein Riss in einer Hose mit Schranz bezeichnet. So gesehen passt Simons Name wunderbar zu seiner Leidenschaft, denn besonders in Bergrissen und Spalten finden sich Kluften. Simon Schranz präzisiert: „Man muss den Stein lesen und zum Beispiel einem Riss folgen. Verformungen und Verfärbungen im Fels können ein Hinweis sein, dass dahinter Kristalle sind. Wenn dann noch ein Quarzband ersichtlich ist, steigen die Chancen erheblich.“ Er grinst und man merkt: Zu viele Hinweise wollen Strahler natürlich nicht preisgeben. Am Berg muss man Geheimnisse für sich behalten.

Einmal hat Schranz nach einem erfolgreichen Fund am Oberaargletscher beim Heimgehen unten im Tal einen anderen Strahler getroffen und sie kamen dabei etwas „zu sehr ins Reden“. Er erzählte dem Kollegen von jener Kluft, in der er die Steine fand. Danach verbreitete sich die Nachricht in der Szene offenbar rasant. Denn, als er später wieder einmal in der Gegend vorbeikam, war der Fels rund um besagte Kluft regelrecht „überkehrt“. „Offenbar fanden die Strahler dort noch mehr Steine, die ich übersehen hatte“, fügt er schmunzelnd hinzu. So sei es sowieso immer möglich, dass in der Nähe von bereits leeren Kluften noch weitere Steine zu finden sind. Da helfe es jeweils, sich beim Analysieren einer alten Kluft vorzustellen, wie die Strahler damals gedacht haben könnten – und dabei allenfalls eine Option übersahen. Schranz findet: „Eine Prise Psychologie gepaart mit guter Vorstellungskraft hilft jedenfalls oft.“

Eine Ehrensache 

Und viel Durchhaltewillen hilft auch. Im Schnitt seien neun von zehn Versuchen erfolglos. Und von dieser einen Kluft, in der man etwas finde, sei auch etwa nur jede Zehnte mit schönen und wertvollen Steinen bestückt. „Oft findet man Steine, die andere vielleicht herausholen würden, die für uns Strahler aber zu wenig hergeben. Die lassen wir dann dort sein, wo sie sind. Nicht alles, was glänzt, verdient es, den Berg hinuntergetragen zu werden“, lächelt er. Bei guten Funden komme es aber durchaus vor, dass er nach getaner Arbeit mit einem 30 bis 40-Kilogramm schweren Rucksack ins Tal steige. „Ich selber wiege gerade mal rund 70 Kilogramm. Da kriegt man dann chrummi Scheiche“, fügt der zähe Schranz verschmitzt an – in seinem breiten Oberländer Dialekt.

Seine Hauptsaison auf 3000 Metern über dem Meeresspiegel beginnt im August und endet mit dem ersten großen Schnee. Das Zeitfenster ist nur gerade gut zwei Monate lang offen. In seiner Region am Galenstock suchen noch zirka drei weitere stationäre Strahler mit eigenem Biwak. Man kennt und schätzt sich und macht einander die Kluften nicht streitig. Sowieso wird unter den Kristallsuchern ein Ehrenkodex hochgehalten. So können frisch entdeckte Kluften und Stellen, wo man zu suchen beginnt, mit einem Kürzel und Datum angeschrieben und damit als eigenes Strahler-Hoheitsgebiet deklariert werden. Wenn man dann noch Werkzeuge darin ablegt, müssen andere Strahler für mindestens zwei Jahre die Hände davon lassen. Auch verpflichten sich alle Kristallsucher durch den Kodex, die Natur korrekt zu behandeln und Ausgrabungen so zu hinterlassen, dass es eine Gattig macht. Leider hielten sich in der Vergangenheit nicht alle Sucher an diese ungeschriebenen Gesetze, so ist das Strahlern in einigen Regionen der Alpen nicht mehr oder nur noch mit Bewilligungen erlaubt. Um der anstrengenden Beschäftigung nachgehen zu dürfen, muss dort auch noch für Geld ein Patent erworben werden.

Unter dem Boden 

Das Strahlern ist nicht nur kräftezerrend, es ist auch gefährlich. Dass unentdeckte Kluften oftmals leichter in Bergsturzgebieten zu finden sind, dort also, wo der Berg von sich aus wärchet und Kristalle neu zugänglich macht, ist die eine Tatsache. Dass viele Gebiete in den letzten Jahrzehnten bereits stark abgesucht wurden und deswegen Funde tendenziell eher nur noch in anspruchsvolleren Gegenden möglich sind, ist die andere. Schranz erzählt: „Gewisse Orte sind nur durch Kletterpassagen zu erreichen, an anderen muss man sich abseilen. Da nicht alle Strahler so vorgehen, findet man manchmal dort noch unberührte Stellen.“ Zudem sei es paradox: Durch den Klimawandel würde mancherorts das Gestein instabiler. Dies mache das Strahlern zwar etwas einfacher, aber eben die Gefahr auch um einiges größer. „Ich hatte selber auch schon Glück, dass ich nicht von herunterstürzenden Felsbrocken getroffen wurde“, räumt er ein. Dass andere Strahler schon Pech hatten und bei ihrer Tätigkeit das Leben lassen mussten, ist ihm bewusst. Daher sei sein Motto für jene Situationen, in denen es gefährlich wird, stets: „Furt und wäg!“

In den frühen Zwanzigern ist Schranz durch einen Kollegen zum leidenschaftlichen Kristallsucher geworden. Dessen Vater war Strahler und hat die beiden Jungspunde in das Handwerk eingeführt. Dazu hat er sie zu einer bereits offengelegten, alten Kluft geführt und ihnen erklärt, wie man den Fels nun lesen könne. Tatsächlich fanden die beiden Neustrahler in dieser Kluft noch weitere schöne Steine, „sodass es um mich geschehen war“, erzählt Schranz. „Die Suche nach Kristallen wurde für mich zu einer Sucht. Allerdings zu einer positiven Sucht“, fügt er schnell an. Noch heute sei es dieser Kollege, der inzwischen Familienvater ist und deswegen nicht mehr so viel Zeit mit ihm in den Bergen verbringen könne, mit dem er die Strahler-Faszination teile. Da Schranz meistens ganz allein im Hochgebirge unterwegs ist, hat er sich angewöhnt, den Kollegen oder auch seine Familie stets zu informieren. So rufe er sie jeweils mit seinem Handy an, bevor er einen Gletscher überquere und gebe dann wieder Bescheid, sobald die gefährlichen Stellen überwunden sind. So bestünde die Möglichkeit, dass jemand bei einem Unglück schnell reagieren und die Rettung informieren könne. „Ein Bergführer sagte mir mal, Strahler seien die liederlichsten Leute am Berg, weil sie angezogen von möglichen Steinfunden zu viel Risiko auf sich nehmen. Ich versuche darum besonnen und demütig zu bleiben und nichts zu erzwingen.“ Unter dem Boden suchen, doch dabei nicht selber unter den Boden kommen, das ist die Devise.

Nah dem Himmel 

Die Einsamkeit in den Bergen ist es, die Simon Schranz als besonders schöne Erfahrung im Strahlerleben herausstreicht. Er liebt es, beim Budle stundenlang einem Gedanken nachzuhängen oder sich auch einmal auf einen Stein zu legen und eine Stunde auszuruhen. Gerne beobachtet er das Wetter und ergründet die Natur. „Es fasziniert mich ungemein, wie irgendwie alles zusammenpasst. Nichts scheint umsonst zu sein, in der Natur macht alles Sinn und es ist zu allem dazu meistens auch noch einzigartig schön“, philosophiert er. Darum sei er jedes Mal von neuem ein Staunender und Ehrfürchtiger, wenn er aus den Bergen heimkehre. „Wenn man eine Kluft öffnen kann, in der in Millionen von Jahren in absoluter Dunkelheit verborgen Kristalle heranwuchsen und diese jetzt zum ersten Mal im Tageslicht leuchten, muss ich jeweils vor Freude juchzen. Das sind immer ganz besonders bewegende Momente, für die ich fast keine Worte finde.“ Die Frage, was oder wer dies alles geschaffen haben könnte, beantwortet Schranz ganz selbstverständlich mit seinem christlichen Gottesglauben. Für ihn ist es klar, dass da ein guter Schöpfer am Werk ist. Einer, dem er oft abends, wenn die Sonne hinter den Berggipfeln verschwinde und er hoch oben von seinem „Chalet“ ins Tal hinunterstaune, tiefberührt von der Schönheit der Erde, nur noch danken könne.

Unverkäufliche Schönheit 

Immer wieder mal liebäugelt Simon Schranz damit, seinen Zimmermannsberuf aufzugeben und Berufsstrahler zu werden. Schweizerweit gibt es seiner Einschätzung nach etwa fünf bis sechs Personen, die vollberuflich Steine suchen und diese danach verkaufen, so ihren Lebensunterhalt bestreiten. Es sei kein leichtes Unterfangen. An Mineralienbörsen, im Fachhandel, über eigene Shops und zunehmend auch übers Internet werden Abnehmer gesucht. Und nur die außergewöhnlichen Steine bringen ansehnliches Geld ein. Die allermeisten Strahler jedoch seien Liebhaber und teilzeitig oder in der Freizeit aktiv, so wie er. Bisher hinderte ihn am Schritt in eine Strahler-Selbstständigkeit vor allem eines: Dann müsste er seine Lieblingssteine hergeben. Dies aber würde ihm mehr als schwer fallen. „Gerade die schönsten Steine sind unverkäuflich, ich behalte sie für mich und stelle sie in einer Vitrine in meiner Stube aus“, erzählt Schranz stolz: „So kann ich mich immer wieder daran erfreuen und mich an die Geschichten, wie und wo ich sie fand, erinnern.“ Für ihn gibt es Wertvolleres als Geld.

Inzwischen steht Simon Schranz im niedrigen Wohnzimmer seines alten Holzhauses. Er strahlt mit den Kristallen um die Wette, wenn er die einzelnen Steine aus der Vitrine holt und sie präsentiert. Da sind Limonitquarz, Rauchquarz- und Bergkristalle, diverse Mineralien und auch Fossile. Es glänzt in allen Farben und Größen. Andere Steine liegen verteilt auf Eierschachteln und warten darauf, bei schlechtem Wetter vom Finder „geputzt und gefägt“ zu werden. Überall im und ums Haus, selbst auf der Fensterbank, findet man ganz verschiedene und auch besondere Exemplare aufgestellt. „Ja, ich bin auch ein Sammlertyp“, gibt Schranz zu. Er freue sich einfach daran, seine Kristalle um sich herum zu haben. Und wenn dann mal einer unten an der Straße wegkomme, sei das auch kein Problem. „Dann denke ich mir, dass jetzt hoffentlich ein anderer an diesem Stein Freude hat“, lacht er zufrieden.

Übersetzungen Schweizerdeutsche Wörter:
Miis Chalet: Mein Chalet
Chrummi Scheiche: krumme Füße
Gattig: einen guten Eindruck machen
Wärche: arbeiten – Budle: graben
Furt und wäg: fort und weg

MARTIN ITEN

Hol dir die ganze Printausgabe! Einfach hier bestellen zu einem Preis, den du selbst festlegst. Melchior erscheint zweimal im Jahr mit gut 90 Seiten „Auf der Suche nach dem Schönen, Wahren, Guten“.