19 Apr Der freie Faster
Matthias Bühlmann ist überzeugt, dass wir mehr vom Leben haben, wenn wir uns gezielt für weniger entscheiden. Mit seiner Frau Antonia lebt er mitten in der Hauptstadt der Schweiz einen bewusst anderen Lebensstil.
Dieses Porträt ist im April 2023 in der Ausgabe Nr. 18 erschienen. Melchior erscheint zweimal im Jahr. Bestell dir hier die aktuelle Melchior Ausgabe zum Kennenlernen.
Verzicht heißt für die meisten Menschen Anstrengung, Zwang und Einschränkung. Matthias stellt hingegen klar: „Gefühlt verzichte ich auf nichts. Ich kann mich jeden Tag entscheiden, was ich heute essen will, und habe eine riesige Auswahl.“ Gleichwohl fastet der Berner Theologe einen Tag pro Woche feste Nahrung, hat sich selbst auch schon ein Jahr lang jegliche Einkäufe außerhalb des täglichen Bedarfs verboten und lebt eine sehr großzügige Kultur des Teilens.
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Auf die Frage, wieso jemand freiwillig sein Leben einschränken sollte, antwortet Matthias: „Wir leben in einer Kultur der Grenzenlosigkeit im Einkaufen wie auch im Ausgeben. Es gibt immer alles überall. Die Verkäufer wollen unser Geld, die Sozialen Medien unsere Zeit.“ Er verstehe nicht, wie man in unserer Gesellschaft überhaupt ohne bewussten Verzicht leben kann. „Ich brauche diese Schranken für meine Orientierung.“ Dazu kommt, was die Klimathematik bereits zeigt. Über kurz oder lang wird uns die Natur sowieso zum Verzicht zwingen.
Das Nahrungsfasten wurde aber noch speziell durch den Kontakt mit materiell ärmeren Menschen geprägt. In seinem Beruf als Leiter einer international tätigen, christlichen Bewegung bereist Matthias verschiedene Länder Afrikas oder besucht die Roma in Serbien. „Indem ich jeden Donnerstag nur trinke, kommuniziere ich meinem Gesamtsystem, dass es nicht selbstverständlich ist, immer Essen zur Verfügung zu haben.“ In der Schweiz essen wir meist, wenn es uns die Uhr sagt, nicht unbedingt, weil wir Hunger haben. Das bewusste Teilen der Hungererfahrung steigere seine empathischen Fähigkeiten und helfe ihm, sich in andere hineinzuversetzen.
Fasten als Befreiungsakt
Unter Fastenzeit versteht man meist die vierzig Tage vor Ostern. Matthias hat aber auch den Advent als Phase des bewussten Verzichts wiederentdeckt, wie es früher die Norm war. „Paradoxerweise ist der Advent heute das genaue Gegenteil. Nie isst du mehr, kaufst du mehr, gibst du mehr Geld aus als im Dezember.“ In dieser Zeit verzichte er oft auch noch auf Weiteres wie soziale Medien oder tierische Produkte. „Die geregelten Fastenzeiten helfen mir, Bodenhaftung zu behalten und nicht einfach mitzuschwimmen in unserer konsumorientierten Kultur.“
Theologe und regelmäßig am Fasten? Klingt das nicht nach Wüstenprophet mit erhobenem Zeigefinger? Matthias sieht sich nicht als missionarischer Faster. Amüsant sei aber, dass die Leute meist von allein beginnen, sich zu rechtfertigen und ausführlich erklären, wieso sie selbst unmöglich fasten könnten. Die Sprüche sind immer dieselben. Für die meisten Menschen ist Fasten ein schmerzhaftes Opfer. Wenn Leute verzichten, dann oft, um dafür etwas anderes zu bekommen. Bessere Fitness, schönere Kurven oder eine Wunscherfüllung Gottes. Wer so fastet, sei immer noch im Konsumdenken gefangen. „Ich wünsche jedem die Erfahrung, dass Fasten kein Leiden ist, sondern einen frei macht.“
Shoppingpause
2018 wagten Matthias und Antonia das Experiment „Shoppingpause“. Ein Jahr lang wird nur gekauft, was man verbraucht. Keine Kleider, keine Elektronik, keine Bücher, grundsätzlich keine Gegenstände. „Es ging nicht darum zu sparen. Es war eher ein Exorzismus-Jahr gegen den Gott unserer Gesellschaft: den Mammon*.“ In dieser Zeit hätten sie realisiert, was sie eigentlich alles nicht brauchten. Die Lust am Ausmisten sei in diesem Jahr enorm gestiegen. Wenn man sich einmal der Konsumwut entzieht, merkt man, wie viel Unnötiges man besitzt. Im Jahr 2018 stand auch ein Umzug an. „In der neuen Wohnung machten wir uns eine Liste mit all den Dingen, die uns hier noch fehlten und die wir nach Ablauf des Jahres noch kaufen wollten. Als das Jahr vorbei war, hatte sich fast alles erübrigt.“
Prioritäten neu setzen
Wenn etwas kaputt ging oder etwas fehlte, wurde man plötzlich kreativ. Die erträumte Bluetooth-Box, für die es vor Beginn der Shoppingpause gerade nicht mehr gereicht hat, wurde zum Beispiel kurzerhand mit dem verstaubten Plattenspieler aus dem Keller ersetzt. Bis heute ersetzt das Vinyl die Box problemlos. Als Antonia einmal den Haarföhn kaputtging, fragte sie bei Kolleginnen nach, ob jemand ein übriges Gerät besäße. Fast jede ihrer Freundinnen hatte mindestens zwei Föhns im Inventar.
„Wir entdeckten auch neu den Wert von immateriellen Geschenken. Meinen Patenkindern schenke ich beispielsweise seither einen Audioadventskalender mit 24 selbst aufgenommenen Geschichten. Meinen Vater habe ich zum runden Geburtstag mit einem Artikel in einer Zeitschrift geehrt.“
Großzügigkeitskonto
Wer verzichtet, hat die Möglichkeit, das Eingesparte zu teilen. Bühlmanns gehen noch einen Schritt weiter. Nach einer längeren Phase der Teilzeitarbeit neben dem Doktorat kam plötzlich der Moment, wo Matthias und Antonia als kinderloses Paar zwei fast volle Monatslöhne hatten. „Wir wollten nicht unseren Lebensstandard erhöhen, bloß weil wir jetzt mehr verdienen. Wir hatten ja bereits davor alles, was wir brauchen.“ So eröffneten sie kurzerhand ein neues Konto. Rund ein Drittel ihres Gehalts landet auf dem Großzügigkeitskonto, welches für Spenden genutzt wird. Das gebe eine enorme Freiheit zu helfen, wann und wo man will, schwärmt Matthias.
Den eigenen Willen zurückgewinnen
Freiheit ist für Matthias ein Schlüsselbegriff beim Thema Fasten. In der Shoppingpause habe er zum Beispiel erlebt, wie er die Herrschaft über seine Bedürfnisse zurückgewonnen hat. Da er sich sowieso nichts kaufte, verlor Werbung massiv an Bedeutung und sein Wille wurde spürbar freier. „Unsere Bedürfnisse sind heute viel zu oft Opfer irgendwelcher Algorithmen.“ Wer sich nun selbst fragt, wie gut er eigentlich seinen eigenen Willen im Griff habe, der nehme sich Matthias Worte zu Herzen: „Wenn die Gesellschaft mich mehr prägt als meine Werte, dann muss ich etwas ändern.“
*der biblische Begriff Mammon kann mit Geld oder allgemein Besitz übersetzt werden
JOHANNES TSCHUDI
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