Back to the roots
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Back to the roots

Einmal einen Sommer auf der Alp verbringen, weckt bei vielen romantisch verklärte Vorstellungen. Natur pur, wilde Blumen, duftendendes Heu, Kuhgeläut und Quellwasser. Ein geradezu ideales Setting, um fern von Stress und Hektik zur Ruhe zu kommen, die erschöpften Tastaturfinger für etwas Rechtes zu gebrauchen und im besten Fall auch gleich noch sich selbst zu finden.

Dieser Artikel ist im Oktober 2017 in der Ausgabe Nr. 7 erschienen. Melchior erscheint zweimal im Jahr. Bestell dir hier die aktuelle Melchior Ausgabe zum Kennenlernen.

Für mich als Bauernbub stand ein Alpsommer bis vor Kurzem nicht auf der To-do-Liste für die zu bestehenden „aufregenden Abenteuer meines Lebens“. Lange vermied ich es sorgfältig, mit der Landwirtschaft in Verbindung gebracht zu werden. Auf keinen Fall wollte ich als hinterwäldlerisch, dumm und uncool gelten. Lieber trug ich die Hose in den Knien und hörte Reggae – das war weit weniger peinlich, als mit dem Musiklehrer in der Tracht unterwegs zu sein. Und nun also doch – warum tu ich mir das eigentlich an? – einen Sommer lang als Knecht auf 1900m Höhe. Wennschon, dennschon. Ich habe mir einige handfeste, überprüfbare Ziele vorgenommen: Erstens: Als professioneller Langschläfer, der normalerweise mühelos und chronisch den Wecker überhört oder auf die letzte Sekunde stellt, werde ich einen Sommer lang nicht verschlafen. Zweitens: Die Kühe einer Rasse sehen für mich alle ungefähr gleich aus – es war mir immer ein Rätsel, wie mein Vater all unsere Tiere auseinanderhalten konnte. Ich möchte mir deshalb die Unterschiede einprägen und alle 24 Kühe beim Namen kennenlernen. Und als Bonusziel: Ich zähle die Käselaibe, die ich einreibe und pflege.

„Adrian!… Adrian?“ „Ja, ich komme!“ Es ist 05.00 Uhr. Franz-Heiri heißt mein Wecker. Gemeinsam mit seiner Frau Agnes bewirtschaftet er diese Alp, wie sein Großvater und schon sein Urgroßvater. Der Großvater wurde 92. 92 Sommer hat er auf der Alp verbracht, mein Wecker ist 55 und den 55. Sommer auf der Alp. Kühe melken steht als erstes auf dem Programm. Im Kampf darum, wer der Boss ist, weist die starke Ricola Kuh Flora in die Schranken. Flora weicht gekonnt aus. Dummerweise befinde ich mich zur falschen Zeit am falschen Ort und Floras Horn erwischt mich an der Nase. Es blutet sehr stark, mir wird schwarz vor den Augen und ich bin weg. Vom Träumen zurück zum Sternchensehen. Zehn Minuten lang kann ich kaum atmen, nicht sprechen und nichts bewegen. Mein ganzer Körper kribbelt. Nach einer halben Stunde stehe ich wieder aufrecht. Etwas beduselt zwar, aber das Melken kann weitergehen. Meine Zeit hier oben wird es vermutlich also doch auf die Liste der zu bestehenden Abenteuer schaffen. Gegen 07.00 Uhr sind alle wieder am Tisch und es wird gemeinsam gefrühstückt. Dann geht der Tag erst richtig los. Franz-Heiri verteilt wie jeden Morgen die Arbeit. Käse kehren, Käse einreiben, Zäunen, Fenster putzen, Kühe treiben, Mist zetten, Unkraut spritzen, abwaschen, mähen, die Sense dengeln, kochen oder einem verirrten Touristen ein Plättli servieren. Heute scheint die Sonne, sodass wir im Trockenen in der vorderen Alp Unkraut mähen können, bevor wir uns die kommenden Tage mit den Steigeisen oder barfuß in die Felshänge wagen. Anschließend muss noch der Klauenstand zum See heruntergetragen werden, da sich eine Kuh verletzt hat. Nichts Schlimmes, aber es muss angeschaut werden. Nachmittags gilt es dann gegen 350 Käse mit Salzwasser oder Molke einzureiben, nach dem „Z’abig“ um 17.30 Uhr geht es wieder in den Stall, um die abendliche Milch zu melken. Um 20.00 Uhr sind alle wieder am Tisch. Es reicht für einen Nachtisch oder einen Abendschnaps, 200 Meter weiter lässt sich auch noch das Gute-Nacht-SMS versenden. Dann, um halb zehn Uhr kehrt Stille ein in der Hütte.

Die Tage sind lang und streng. Aber schön ist es, müde zu sein, wenn die Arbeit sinnvoll ist und du abends siehst, was du gemacht hast. Das Essen schmeckt – ich schätze die Lebensmittel, die entweder selber hergestellt oder zumindest heraufgeschleppt worden sind. Wenn letzte Woche in der ganzen Schweiz der Strom ausgefallen, im Weltall Außerirdische entdeckt oder Facebook in Konkurs gegangen wäre – das Leben hier wäre genau gleich weitergegangen. Für einen immer und überall erreichbaren Zigeuner wie mich, der gerne durch die halbe Schweiz gondelt, um schnell in Zürich einen Kaffee zu trinken, ist diese Ruhe neu. Trotzdem erlebe ich viele Augenblicke der Vertrautheit.

Sechs Wochen sind vorbei. Knappe Halbzeit. Ich ziehe Bilanz. Sechs Kilogramm habe ich abgenommen. Mein Bart wächst weniger schnell als erhofft (unausgesprochene Regel: Man rasiert sich erst wieder im Tal). Die Kuh ist ein Herdentier. Ein Knockout kann dich nicht nur im Boxring ereilen. Die 80-jährige Großmutter braucht keine Hilfe beim Zäunen. Sinnvolle Arbeit ist schöne Arbeit. Ich weiß jetzt, warum ich mir das antue. Selbst gemachter Käse schmeckt doppelt so gut. Das Wetter kann sich blitzartig ändern. Bei guter Sicht blickst du bis zu den italienischen Bergen. Efeu, Ricola, Goldeli, Flora… – von den vierundzwanzig kenne ich bis auf vier alle vom Aussehen und beim Namen. 4306 Käselaibe habe ich eingerieben. Und ja, ich habe verschlafen. Ein einziges Mal.

Ich bin ein Bauernbub und ich bin meinen Eltern sehr dankbar für alles, was sie mir mitgegeben haben und noch geben werden. Bisweilen entdecke ich sogar ein Fünkchen Stolz über diese meine Herkunft. Ich darf zulassen, dass ich gerne in der Hütte bin, wenn in der Stube ein Örgeli spielt. Unten im Tal werde ich weiterhin im Chörli jodeln und nebenbei auf Rockkonzerte gehen, den Schlangenkopf1 im rechten Ohrläppli zur hochgekrempelten Hose mit Happy Socks tragen. Und womöglich wird mein älplerischer Bart im Herbst nach angemessener Pflege einfach nur ein Moderelikt sein. Vielleicht bin ich einfach Fisch und Vogel. Und das ist in Ordnung so.

Es ist 05.00 Uhr. „Adrian!… Adrian?“ „Ja, ich komme!“.

 

1 Typischer Ohrring der Toggenburger Tracht.

  ADRIAN ITEN, 20, war von Juli bis September auf Alp Spilau. Zieht jetzt wieder barfuss für einen Kaffee durch die Schweiz.