Am seidenen Faden
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Am seidenen Faden

Ein Gespräch mit der Psychotherapeutin Elisabeth Lukas über halbsichere Ganzherzigkeit, schlechte Gesellen und die Kostbarkeit von Lebenszeit.

Das Gespräch mit der Psychotherapeutin Elisabeth Lukas ist im Oktober 2018 in der Ausgabe Nr. 9 erschienen. Melchior erscheint zweimal im Jahr. Bestell dir hier die aktuelle Melchior Ausgabe zum Kennenlernen.

Obwohl wir in Ländern leben, in denen es nicht mehr ums nackte Überleben geht, wird unserer heutigen Gesellschaft vielfach die Diagnose „Gesellschaft der Angst“ ausgestellt. Haben Ängste zugenommen? 

Wenn man von unserer Lebenssituation ausgeht, muss man sagen, es geht uns wie im Paradies verglichen mit anderen Völkern. An und für sich sollte die Dankbarkeit überwiegen. Aber gerade die Gewöhnung an das Gutgehen könnte auf seltsame Weise mit diesem höheren Angstpegel zu tun haben. Wenn es einem Menschen eher gut geht, beschleicht ihn die Angst, dass es ihm einmal weniger gut gehen könnte. Je mehr man hat, desto mehr muss man zittern, ob man das Haben halten kann. Die Verwöhnung kann gleichzeitig auch einen Vertrauensverlust in die eigene Kraft bewirken. Man ist kaum geübt darin, Schwierigkeiten zu meistern, sich aus eigener Kraft hochzurappeln, wenn man gestolpert ist. Das spielt eine Rolle. Aber insgesamt glaube ich nicht, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der die Angst so viel größer ist, als vor Jahrzehnten oder vor Jahrhunderten. Ich glaube eher, dass heute die Panikmache stärker ist. Wenn man den Fokus auf Schwieriges, Sensationelles und Missliches legt, kommt das Negative ins Bewusstsein des Menschen und nimmt mehr Platz in der Seele ein, als ihm zukäme.

Was ist die eigentliche Quelle der Angst? 

Es gibt schon so etwas wie eine existenzielle Urangst. In Wirklichkeit hängt unser Leben ständig an einem seidenen Faden und wir wissen das. Wir sind die Geschöpfe, die mit dem Wissen um ihre Endlichkeit durchs Leben gehen. Die Urangst vor der Sterblichkeit kann sich in kleinen Details verstecken, wie zum Beispiel der Angst davor auf Berge zu steigen, in die Tiefe zu blicken oder von einem Hund gebissen zu werden. Sie ballt sich zusammen und verdichtet sich in einer einzelnen Möglichkeit – man kann sich schließlich nicht ständig vor allem fürchten. Aber eigentlich enthüllt sich darin eine falsche Sicht. Die Tatsache unserer Vergänglichkeit bedeutet ja gerade, dass jeder Augenblick kostbar ist. Was wir in der Lebenszeit machen wollen, müssen wir auch angehen. Der Tod ist der Motor zum Leben, der Stimulus, wirklich in Fülle zu leben. Erst wenn wir Lebenszeit verschleudern, kommt die Angst hoch. Frankl hat gesagt, dass im Grunde hinter jeder Todesangst eine Gewissensangst steckt.

Wäre diese Gewissensangst eine Art  Schuldempfinden sich selber gegenüber?

Sie ist eher das Wissen um ein Versäumnis. In der Psychotherapie habe ich immer wieder gesehen, dass die Versäumnisse den Menschen mehr auf der Seele liegen, als die Fehler, die sie begangen haben. Es gibt den Kairos des Moments. Gewisse Sachen kann man nur in bestimmten Zeitabschnitten erledigen. Manches lässt sich zu einer späteren Zeit erneut machen, aber vieles ist nicht wiederhol- oder verschiebbar. Wenn man beispielsweise ein Kind großzieht, aber nie Zeit für das Kind hat, kann man die Kindheit im Nachhinein nicht anders gestalten oder das Mutter- oder Vatersein mit vielen Geschenken oder Geldunterstützung nachholen. Aber statt sich davor zu fürchten, dass es mit einem irgendwann aus ist, sollte man dieses Faktum ummünzen in ein starkes Motiv, Leben wirklich sinnvoll zu gestalten. Jeder hat einen Einfluss auf unsere Welt, doch die Angst verleitet uns zu einer Art Passivität, dazusitzen und zu sagen, „wir können ohnehin nichts tun“. Wenn man diese Sichtweise umdreht und sich sagt: „Was immer mir passieren mag – und früher oder später wird mir sicher etwas passieren – jetzt bringe ich im Rahmen meiner Möglichkeiten mein Bestes zur Entfaltung“, dann liegt man richtig.

“Je mehr man hat, desto mehr muss man zittern, ob man das Haben halten kann.”

Dann ist die Angst, oder im Umkehrschluss, wie Sie gesagt haben, das Sinnmotiv ein menschliches Spezifikum? 

Ja, die existenzielle Angst vor einem Lebensversäumnis ist typisch menschlich. Es gibt bei uns wie bei den Tieren auch die kreatürliche Angst vor Schmerz. Unser Nervensystem sorgt dafür, dass uns körperliches Leid nicht behagt. Aber die menschliche Angst geht darüber hinaus. Es ist die Angst vor einem sinnentleerten Leben, bei dem man am Ende sagen muss: „Was war’s jetzt eigentlich, wozu bin ich jeden Tag in der Früh aufgestanden?“

Sie haben gesagt, man soll der Angst nicht zu viel Raum geben. Aber die Angst ist auch eine treibende Kraft, die Positives bewirken kann.

Die Angst hat eine Schutzfunktion, die wir ebenfalls mit den Tieren teilen. Sie schützt uns vor Leichtsinn, in gewisser Hinsicht vor einer Art Mutwilligkeit, das Leben zu riskieren. Wenn man Angst hat, bei Rot über eine stark befahrene Straße zu laufen, dann ist das eine gute Angst. Aber es gibt auch übertriebene Ängste. 

Die Angst nistet sich oft sehr subtil in unserem Denken und Fühlen ein, sodass gar nicht leicht zu erkennen ist, ob sie einen schützt oder dominiert. Wie erkennt man, ab wann die Dosis einer gesunden Angst überschritten ist?

Es gibt schon ein Kriterium des Unterschieds. Die schützende Angst bewahrt den Menschen tatsächlich vor Unheil. Die übertriebene Angst hingegen, man nennt das eine irrationale Angst im klinischen Sinn, verliert ihre schützende Kraft und treibt den Menschen in sein Unglück noch hinein. Die unberechtigten Ängste haben die Eigenschaft, dass ihre Schutzfunktion erlischt und sie das Gefürchtete sogar eher anziehen. Die Amerikaner sprechen von einer self fulfilling prophecy, von einer Prophezeiung, die sich selber erfüllt, nicht weil sie richtig ist, sondern weil sie prophezeit worden ist. Beispielsweise hat jemand Angst vor dem Versagen und vor lauter Angst vor dem Versagen versagt er und sobald er versagt hat, steigt nochmals die Angst, beim nächsten Mal wieder zu versagen. Um aus einem solchen Teufelskreis herauszukommen, braucht er Hilfe.

Sie sprechen von Angst als übertriebener Sorge um das eigene Ich. Wäre demnach die Selbstvergessenheit eine Hilfe, um der Angst beizukommen? 

Selbstvergessenheit ist gar nicht schlecht. Frankl hat einen therapeutischen „Trick“ entwickelt, den er paradoxe Intention genannt hat. Er meinte, man solle sich das Gefürchtete just herbeiwünschen. Das klingt merkwürdig, aber tatsächlich sind Wunsch und Furcht Gegenspieler, die sich gegenseitig hemmen. Man kann sich z.B. nicht gleichzeitig denken „ich habe fürchterliche Angst vor dem Abend und ich wünsche mir sehnlichst den Abend herbei.“ Entweder das eine oder das andere. Wenn man seine Furcht auf humorvolle Weise umdreht und solcherart ausklinkt, kann man sich von ihr ein wenig losstrampeln und sie verliert ihre Kraft, das Gefürchtete eintreten zu lassen.

Ist Humor demnach eines der effektivsten Mittel, um gegen die Angst ins Feld zu ziehen?

Ja, Humor und Mut. Ich habe zu meinen Patienten immer gesagt: Man kann Angst haben und mutig sein zur selben Zeit. Man muss ein bisschen Trotz aufbringen und sich von sich selbst nicht alles gefallen lassen. Etwa nach dem Motto: „Das gibt’s doch nicht, dass mich die Angst davon abhält, in Gesellschaft zu gehen. Heute Abend werde ich hingehen und das Wort ergreifen. Sollen sie alle denken, mein Gott, der Trottel. Ich erlaub es ihnen. Die anderen bringen eine Flasche Sekt, oder Schokolade, ich bringe das Geschenk, dass alle über mich lachen dürfen.“ Humor hilft Distanz zu gewinnen – Angst zu haben, ohne in ihr aufzugehen. Solange man voller Angst durchs Leben geht, ist man nur damit beschäftigt dem Gefürchteten zu entkommen und kann die Frage nach dem Sinn gar nicht stellen.

Ist die Angst vor der Ungewissheit größer als die Furcht vor der tatsächlichen Widrigkeit einer Situation?

Genau. Der eigentliche Feind ist die Angst und nicht das Gefürchtete. Die Leute fürchten, dass sie versagen, sich blamieren, dass andere Leute sie nicht schätzen… In Wirklichkeit müssten sie ein Leben fürchten, in dem sie ständig eingeengt sind vor ihren Ängsten. 

“Wunsch und Furcht sind Gegenspieler, die sich gegenseitig hemmen.”

Sie haben vom Versäumnis gesprochen. Kierkegaard beschreibt in seiner Schrift „Begriff der Angst“, die Angst als eine Art Schwindel der Freiheit, der aufkommt, wenn die Freiheit hinunter in ihre eigene Möglichkeit schaut. Wäre Angst demnach das Wissen um die Möglichkeit, das Leben versäumen zu können? Oder wie sehen Sie den Zusammenhang zwischen Angst und Freiheit?

Der Mensch ist der erste Freigelassene dieser Erde. Frankl hat betont, dass unsere Freiheit nicht eine Freiheit von etwas, sondern eine Freiheit zu etwas ist. Wir sind nicht frei von unseren Bedingungen und Abhängigkeiten. Aber wir sind frei dazu, etwas aus unserem Leben zu machen. Wir haben eine kleine Willensfreiheit. Wir können wählen zwischen ABCD, aber ABCD sind nicht gleich, nicht gleich wert und würdig, verwirklicht zu werden. Deshalb ist dort, wo Freiheit ist, auch Verantwortung.

Wird nicht die Suche nach der besten Wahl zur Ursache von Angst?

Man wird logischerweise nicht immer die beste Möglichkeit finden, aber trotzdem kommen wir um die Wahl nicht herum, das ist unser menschliches Spezifikum. Ein ganz simples Beispiel: Wenn ich auf der Straße gehe und vor mir fällt eine alte Frau nieder, kann ich an ihr vorbeigehen oder hingehen und ihr aufhelfen. Es ist meine Freiheit und meine Verantwortung. Jeder will frei sein, aber die Verantwortung hat nicht jeder so gern, obwohl Freiheit und Verantwortung die Seiten ein und derselben Medaille sind. Freiheit hat mit Ungewissheit zu tun und die Ungewissheit gehört immer zum Wagnis einer Entscheidung. Wir sind ja keine Hellseher. Wenn wir eine Entscheidung treffen, wählen wir immer ins Ungewisse. 

Aber was ist der Boden, auf dem der Mut zum Wagnis wachsen kann? Sie haben erwähnt, dass man sich zwischen Wahlmöglichkeiten entscheiden muss, die nicht gleichwertig sind. Welcher Maßstab steht einem zur Verfügung, um trotz Ungewissheit klar zu entscheiden?

Frankl hat empfohlen, sich stets „half sure und whole hearted“ –  halb sicher, aber mit ganzem Herzen zu entscheiden. Wenn man sich für etwas entschieden hat, dann soll man es wirklich wagen. Ganz ohne Orientierung sind wir ja nicht. Wir haben alles, was wir gelernt haben, von den Eltern, von der Gesellschaft, von den Gesetzgebern, von der Religion –  eine gewisse ethische Schulung. Und dann haben wir unser persönliches Gewissen. Wir haben ein Gespür, eine Stimme in uns, die uns den Weg weist. Das Gewissen kann sich auch irren, so wie alles Menschliche sich irren kann, aber im Großen und Ganzen ist unser Gewissen der sicherste, gewisseste Maßstab. 

Woher kommt das Urvertrauen, in die Ungewissheit hineinzugehen?

Damit kommt man schon auf die Welt, das hat man qua Menschsein.

Wenn das Urvertrauen zugeschüttet ist, wie kann man es wiedererlangen? 

Selbst ein durch schlechte Erfahrungen zugeschüttetes Urvertrauen kann man wieder ausgraben. Da es nicht von den Eltern oder Repräsentanten der Gesellschaft erzeugt worden ist, kann es von ihnen auch nicht vernichtet werden. Urvertrauen ist wie ein Hauch Rückerinnerung des Geschöpfs an seinen unbekannten Schöpfer. Das ist allerdings nur eine Metapher. Meine Erfahrung ist die, dass Menschen, wenn sie einen Vertrauensvorschub leisten, ihr Urvertrauen wieder zurückgewinnen können. Es hat mit Angstbewältigung zu tun, denn das Gegenteil des Urvertrauens ist Urangst. Stellen Sie sich vor, jemand steht im Schwimmbad auf einem drei Meter hohen Sprungbrett und blickt in die Tiefe. Welche Möglichkeiten hat die Person? Sie kann zurückgehen, eine Weile oben stehenbleiben und runterschauen, was die Angst jedoch eher vergrößert, oder sie kann trotz und mit Angst springen und auf diese Weise einen Vertrauensvorschuss leisten. Das heißt, die Person hat noch gar nicht das Vertrauen, dass nichts Schlimmes passiert, aber sie handelt, als hätte sie dieses Vertrauen. Und wenn sie jetzt springt, passiert genau das, was sie gefürchtet hat, sie geht nämlich im Wasser unter. Aber sie geht nicht nur unter, sondern sie taucht wieder auf. Die Person lernt also, dass das Wasser sie trägt und dass das Untergehen kein endgültiges Untergehen ist, sondern eine Passage. Ich habe zum Beispiel mit Frauen gearbeitet, die von einem Mann missbraucht oder beschämt oder gedemütigt worden sind. Danach haben sie gesagt: „ich traue keinem Mann mehr und lasse mich auf niemanden mehr ein“. Ich habe diesen Frauen erklärt, dass das nicht sinnvoll ist. Ein anderer Mann hat ein Recht, dass ihm erst einmal ein Vertrauen entgegengebracht wird. Sonst strafen sie die Falschen –  den anderen und sich selbst. Ein anderer Mann verdient kein Misstrauen von Anfang an, er soll erst einmal zeigen können, ob er Vertrauen verdient. Dieser Vertrauensvorschuss ist der Sprung vom Turm, ohne den es im Leben nicht gut geht.

Trotzdem leuchtet die Abwehrreaktion ein, weil das Schönste, die Auslieferung, auch zum Schrecklichsten werden kann. Warum sich nicht im Vorfeld mit Enttäuschungsresistenz dagegen wappnen?

Die Angst vor Enttäuschung ist kein guter Geselle. Wenn man nur aus etwas raus will, weg von einer Enttäuschung, flüchten vor einer Misslichkeit, aber nicht weiß, wohin man will, dann schleppt man die alten Schwierigkeiten direkt in die neue Situation hinein. Ausliefern muss man sich sowieso ans Leben. Alles ist immer noch mehr wert, als die bloße Verhinderung von Enttäuschung, was ja nur ein negatives Motiv, ein Anti-Motiv ist. Wir müssen Pro-Motive haben. Im Grunde gibt es überhaupt nur zwei große Motive: die Angst oder die Liebe. Die Angst ist das Anti-Motiv und die Liebe ist ein Pro-Motiv. Im weitesten Sinn. Ob es die Liebe zu einer schönen Reise oder zu einem Musikstück ist, zu einem Menschen oder einer bezaubernden Landschaft, spielt keine Rolle. Das Pro-Motiv spiegelt die Freude an etwas und die trägt durch alles durch, auch durch die Enttäuschung. 

“Freiheit und Verantwortung sind die Seiten ein und derselben Medaille.”

In einem Interview zitieren Sie Frankl, der sagt, der Neurotiker versage sich dem Wagnis des Leidens. Könnten Sie das etwas näher erläutern?

Frankl, der sagte, Leid hat man sich ja nicht ausgesucht, aber wenn es nun da ist, dann ist es ein Stück „Baumaterial“, aus dem man etwas bauen kann. Eine Menge „Baumaterial“, wie Erbgut, Kulturkreis, Familie oder Milieu, können wir nicht aussuchen. Es ist auch nicht gerecht verteilt auf Erden. Überhaupt nicht. Aber unabhängig davon ist etwas Eigenes, etwas Kreatives im Menschen, sonst wären wir völlig determiniert und nur abhängig davon, wie die Würfel fallen. Ein Leid ist kein erfreuliches „Baumaterial“, dennoch stellt sich die Frage, wofür man es verwendet. Immer noch hat man eine Wahl. Man kann z.B. ein unabänderliches Leiden mutig tragen, ohne den Schmerz an andere weiterzuleiten. Der Mensch baut sich daraus sein Gefängnis oder er baut sich eine Kathedrale. 

Sie nennen in einem Ihrer Texte die Angst die „Mutter der Verzweiflung“. Zu Beginn haben Sie Verlust und Angst in Verbindung gebracht. Ist die Urangst des Menschen die Verlassenheit?

Wahrscheinlich ist noch ein weiterer Faktor im Spiel. Frankl hat festgestellt, dass hinter jeder Verzweiflung eine Vergötzung steht. Das heißt, man hat einen irdischen Wert zum Himmel gehoben, fast angebetet. Jemand sagt: „ohne dich kann ich nicht leben“, oder jemand lebt nur für seinen Beruf, oder eine Mutter lebt nur für die Kinder. Aber jeder irdische Wert ist verlierbar. Alles ist verlierbar. Die Karriere kann zu Ende gehen, die Kinder gehen aus dem Haus, die Jugend und die Gesundheit kommen abhanden, der geliebte Mensch kann sterben oder einen verlassen. Frankl warnte: Wenn man einen Wert vergötzt, d.h. zu hoch hebt und sein Herz nur an diesen einen Wert hängt, und dieser dann verloren geht, dann fällt man tief in die Verzweiflung. Deswegen müssen wir im Lauf unseres Lebens lernen, notfalls, ich meine jetzt wirklich notfalls, jeden Wert loszulassen. Selbst ein Kind. An einem Kind hängt man unglaublich, aber Sie können ein Kind gar nicht gut großziehen, wenn Sie nicht notfalls fähig sind, es herzugeben. Sonst können Sie es nicht Radfahren lassen, weil Sie dann zittern müssen, dass ein Bus es überrollt, es könnte nicht in ein Zeltlager fahren, weil Sie dann zittern müssen, dass es vom Blitz getroffen wird. Sie müssten es wirklich binden und an sich halten und das geht nicht. Genauso wenig wie in einer Partnerschaft. Sie müssen im Stande sein, alles, wenn es denn sein muss, alles herzugeben. Dann sind Sie souverän, dann kann Sie weder die Angst knicken noch die totale Verzweiflung. Frankl, der religiöser Jude war, hat sehr schön gesagt: Alle Werte sind Platzhalter für den Herrn. Man darf einen Wert nicht vergötzen, denn über allen Werten steht der einzige Wert, der wirklich unverlierbar ist und den man auch anbeten darf. Wissen Sie, ich glaube man muss auch die Freude an einer begrenzten Begegnung mit einem Wert erhalten, ohne Anspruch auf Fortsetzung. Nichts setzt sich ewig fort. Wir haben nur immer das Gefühl, dass etwas ewig so weitergehen soll, wenn es schön ist. Aber auch in ihrer Begrenztheit machen die schönen Erlebnisse und Begegnungen das Leben reich.

“Im Grunde gibt es überhaupt nur zwei große Motive: die Angst oder die Liebe.”

Wäre dann die Besitzlosigkeit, im Sinne von nichts für sich zurückbehalten zu wollen, der Schlüssel für ein Leben ohne Angst? 

Nikos Kazantzakis, der Dichter von Alexis Sorbas hat sich auf seinen Grabstein eingravieren lassen: „Ich wünsche nichts, ich fürchte nichts, ich bin frei.“ „Ich wünsche nichts“ im Sinn von „ich muss nichts für mich haben, sonst sorge ich mich um mich“ und „ich fürchte nichts“ im Sinne von „ich kann alles hergeben“. Ja, dann sind Sie frei –  für ein sinnvolles Leben. Wenn Sie hingegen nur vor Angst zittern, dann nützen Sie keine Ressourcen, dann liegt alles brach.

Ist das Gegenteil von Angst Mut? Oder ist es vielleicht nicht eher Hoffnung oder Ehrfurcht?

Es ist Vertrauen. Die Engländer oder Amerikaner haben einen weisen Spruch: „Fear knocked at the door, faith opened, and no one was there.“ Die Angst klopfte an die Türe, das Vertrauen öffnete und niemand stand draußen. Vertrauen bedeutet jedoch nicht, dass immer alles gut ausgehen wird. Vertrauen bedeutet, daran festzuhalten, dass es, wie es auch kommen mag, seine Stimmigkeit haben wird, dass es im Letzten „gut“ sein wird. 

Es heißt, die Liebe vertreibt die Furcht. Denken Sie, das ist wahr?

Die Liebe meint ein DU und nicht ein ICH. Das Charakteristikum der ungesunden Angst hingegen ist die ständige Besorgtheit ums eigene bisschen Ich, das ständige Drehen um das kleine Selbst. Die eigentliche Liebe zielt nicht das Selbst an, nicht, was der andere für mich hat, für mich tut, ob er mir nützt oder mich zurückliebt, die eigentliche Liebe meint das Du und freut sich am Du.

“Die Angst vor Enttäuschung ist kein guter Geselle.”

Sind sie selber ein ängstlicher Mensch? Was ist Ihre größte Angst?

(Lange Stille) Hm. Nein, ich habe jetzt keine Angst vor irgendetwas. Das war nicht immer so. Mein Mann ist vor vier Jahren gestorben. Ich hatte gar nicht so sehr Angst vor seinem Tod, wie er schwer krank war, aber ich hatte Angst, dass er leiden müsste. Da hat für den Moment mein Vertrauen ein bisschen geschwankt. Zum Glück hat er nicht leiden müssen. Aber jetzt? Jetzt habe ich überhaupt keine Angst, schon gar nicht vor dem Tod. Ich bin auch sicher, dass ich mit meinem Mann wieder vereint sein werde.

 MAGDALENA HEGGLIN, 30, fürchtet sich vor Hunden, zögert auf Sprungtürmen und übt sich täglich im Loslassen.

Hol dir die ganze Printausgabe! Einfach hier bestellen zu einem Preis, den du selbst festlegst. Melchior erscheint zweimal im Jahr mit gut 90 Seiten „Auf der Suche nach dem Schönen, Wahren, Guten“.

Prof.h.c. Dr.phil.habil. Elisabeth Lukas,

geboren 1942 in Wien, ist Schülerin von Prof.Dr.Dr.Viktor E. Frankl. Als Klinische Psychologin und approbierte Psychotherapeutin spezialisierte sie sich auf die praktische Anwendung der Logotherapie, die sie methodisch weiterentwickelte. 1986 gründete sie in Fürstenfeldbruck bei München zusammen mit ihrem Mann das Süddeutsche Institut für Logotherapie und Existenzanalyse. Eine rege Vortragstätigkeit führte sie an viele Universitäten weltweit und ihre zahlreichen Publikationen wurden in 18 Sprachen übersetzt. Elisabeth Lukas wurde mit dem großen Preis des Viktor-Frankl-Fonds der Stadt Wien ausgezeichnet, 2014 verlieh ihr die Universität Moskau eine Ehrenprofessur.

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„Sie müssen im Stande sein alles,
wenn es denn sein muss,
alles herzugeben.“